Die Witwe von Sedan

[432] Wer ist, gehüllt in schwarzes Kleid

Und tiefer noch gehüllt in Leid,

Die fremde Witwe oder Maid?


Man weiß es nicht, woher sie kam;

Ihr Wesen, vornehm, wundersam,

Ist ew'ger Schmerz und heil'ger Gram.


Der Schleier birgt, wie dicht gerollt,

Doch nicht die Lockenfülle hold: –

Sonst trägt sie keinen Schmuck von Gold.


Sie lächelt nie, sie redet kaum, –

Sie ist so weiß wie Wogenschaum, –

Sie lebt und wandelt wie im Traum.


Doch, ob sie redet, ob sie schweigt, –

Ob sie das Haupt zum Busen neigt, –

Ob sie die sanften Augen zeigt: –


Ob ohne Laut sie sinkt ins Knie: –

Ein leiser Glanz umflutet sie

Von Liebreiz, Schmerz und Poesie.


Und jeder Arme, der sie bat,

Das Kind, das in den Weg ihr trat,

Denkt, Gottes schönster Engel naht. –
[432]

Wie rauscht der Abend jetzt so kühl,

Wo einst gebrannt der Kampf so schwül,

Bei Sedan dort am Tannenbühl.


Die Fremde weilt dort wie es tagt,

Bis durch den Wald der Nachtwind klagt,

Wo hoch ein Hügel einsam ragt.


Heil ihm, der dort den Tod gewann!

Seit Lieb' und Liebesschmerz begann,

Ward nicht gleich ihm geliebt ein Mann.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 432-433.
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