Die Brüder

[433] Der Sturm durchrast die Dezembernacht!

Die Düne stäubt, die Brandung kracht

Wie Kanonenschuß,

Wirft gegen die Klippen sie ihren Guß!

Der Strandwart tut einen gellenden Pfiff:

»Ein Schiff in Not! Ein Wrack! Ein Schiff!

Ein Schoner gescheitert am Möwenriff!«

Er ruft aus dem alten Stierhorn dumpf

Den Wrackschrei über Sand und Sumpf:

»Wracka! Ala Mannida, hilf.«


Und schon aus den Hütten, bedeckt mit Schilf,

Rennen heran die Jungen, die Alten,

Die harten, verwetterten Schiffergestalten,

Vom Seesalz dunkelbraun gebeizt. – –

Jetzt, die Beine steif auseinander gespreizt,

Stehn sie am Strand und lugen aus

In den winternächtigen Nebelgraus,

In des wütenden Ostnordost Gesaus.


Der volle Mond bricht durch die Wolken:

Da ruft der Strandwart: »am Möwenholken,[433]

Am nadelspitzen, hängt das Wrack!

Verloren ist's mit Mann und Maus!

Verloren ist's mit Sack und Pack!

Da seht, wie die Brandung drüber schlägt!

Wie sie Mann um Mann vom Decke fegt!

Nun birst es gleich! Schon sinkt es fast!

Wie eine Gerte biegt sich der Mast!

Da schaut! Hoch oben im Mastkorb kauert

Der letzte, vom Eissturm überschauert:

Bald wird es ihm überstanden sein!«


Da schallt ein: »Nein!

Hier mein Boot: Hinein! Hinein!«

So ruft durch den Sturm ein starker Gesell,

Flachsblond das Haar, das Aug' grauhell,

Er hat von der Kette gelöst das Boot:

»Drei Mann mit mir! Wer folgt?«


»Der Tod!«

So ruft der Alte, »der sitzt schon im Boot.

Ich habe siebzig Jahre gesehn,

Doch keinen Ostnordost wie den!

Die Brandung schlägt bis zum Kirchentor,

Das hat kein Mensch erlebt zuvor!

Bleib, Harro, bleib, tollkühner Tor.«


Doch der hat schon das Steuer gefaßt:

»Nur einen noch brauch' ich: – hei Wisogast,

Mein Brüderlein jung – her läuft er in Hast:

Doch oh, das Mütterlein hinter ihm her,

O daß sie doch schlafend im Bettlein wär'.«


Da springt schon der Knabe zu ihm in den Kahn,

Stumm nickt er, mit blitzendem Blick dem Bruder

Und taucht in den schäumenden Gischt das Ruder.[434]

Doch die Mutter, sie bricht durch die Menge sich Bahn

Und sie ringt die Hände, sie rauft das Haar,

Das weiße, wie flattert's ihr im Wind:

»O Harro! und du mein jüngstes Kind!

Zurück! Aus dem Boot. Ihr – mein letztes Paar!

Ist noch mein Elend nicht schwer genug,

Das ich um den ertrunknen Gatten trug,

Und seit meinen Uwe der Sturm verschlug,

Seit mir mein Liebling Uwe verschollen, –

Was blieb mir noch, der Jammervollen?

Nur ihr seid meines Alters Stab,

Soll ich ganz verlassen wanken ans Grab!

Mein Knabe, komm du zurück aus dem Kahn.«

»Nein, ein Bruder muß bei dem andern stahn.«

»O Harro, bleibe, mein arger Sohn! –

Muß ich mit dem Fluche der Mutter drohn?«


Doch Harro stößt schon ab vom Strand,

Das Auge nur auf das Wrack gewandt. –

Sie schwören nicht am Nordseestrand,

Die schweigsamen Männer von Harlingland:

Den Schwur ersetzt der Druck der Hand:

So hatten die zwei sich zusammengetan,

Zu retten aus jedem Orkan

Einen Mann in Not:

Sie taten nun, wie Treue gebot.


Die Greisin hebt drohend die mag're Hand:

Schon öffnet sie zu dem Fluch den Mund,

Da hat sie bezwungen das Weh zur Stund,

Ohnmächtig sinkt sie auf den Sand.[435]

Lang liegt sie so. – Und der Mond, verhüllt

Von Gewölk, versagt sein Licht:

Man gewahrt von der Küste das Schifflein nicht,

Um das wütend die donnernde Brandung brüllt:

Nur Nacht und Sturm und Wogendrang:

Ein schweres Schweigen lang und bang,

Die Kühnsten verzagen um das Paar:

»Die sind verloren! ich wußt' es klar,«

So spricht der Alte und sinkt aufs Knie:

»Kommt, Nachbarn, laßt uns beten für sie:

Das heißt: für ihre Seelen:

Die wollen wir Gott befehlen!«

Und knieend betet die ganze Schar! –


Da fegt den Mond ein Windstoß klar:

Hell leuchtet die See, weiß glänzt der Strand:

Da sieh – schon fährt das Boot zu Land!

Drei Männer trägt's, den Halberstarrten

Wärmt Harro schweigend an seiner Brust:

Doch der Knabe, der kann's nicht erwarten!

Er schreit aus dem Kahn vor Stolz, vor Lust:

»He, Mutter, wach auf! Du bekommst 'nen Gast,

Dein Uwe war's, der da hing im Mast.«

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 433-436.
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