Donna Bianca Vendramin

[368] Durch die Straßen von Ravenna,

Durch die Hallen und Paläste

Zwischen Schwarzen längst und Weißen,

Ghibellinen tobt und Guelfen

Unversöhnlich grimmer Streit.


Aber heute drängt sich alles,

Ritter, Bürger, Senatoren,

In die schwarz verhangne Rota,

Wo die strengen Richter richten

Über blut'ge Freveltat.


Vendramin, das Haupt der Weißen,

Von Ravennas ältstem Adel,

Weise, mild, ein Greis voll Tugend,

Heute nacht ward er ermordet

Auf der Straße nach Forli!


Und in mitternächt'ger Stunde

Von den Weißen ward ergriffen

Nah der Casa Vendramini,

Ohne Wehrgehäng und Gürtel,

Fortunato Loredan.
[368]

Er, der Schwarzen junger Führer,

Ritterlich und kühn und feurig:

Niemand zieh ihn leicht des Mordes –

Doch er weigert Wort und Auskunft

Und den Argwohn mehrt sein Trotz.


»Strenge Rota, sprich dein Urteil.

Was bedarfst du weiter Zeugnis?

Er verweigert Wort und Auskunft

Und um seine stolzen Lippen

Spielt ein siegreich Lächeln noch.«


Also drängt der Haß der Weißen:

Doch der Konsul, hoch von Ansehn,

Spricht: »Ich kann's und will's nicht glauben!

Nein, du bist kein Meuchelmörder,

Fortunato Loredan.


Aber nun zum letzten Male

Frag' ich dich – es gilt dein Leben –

Sage mir, nur mir, dem Richter,

Wo du diese Nacht gewesen,

Als die grause Tat geschah?«


Doch das Haupt wirft in den Nacken

Stolzen Blicks der schöne Jüngling:

»Edler Konsul, nimm mein Leben,

Aber Himmel nicht noch Hölle

Ringt ein Wort aus meinem Mund.«


Und schon hebt den Stab der Konsul: –

Horch, da murmelt's durch die Menge:

»Platz der Dame! Laßt sie nahen,

's ist die Nichte des Erschlagnen,

Donna Bianca Vendramin.«
[369]

Und mit festem raschem Schritte

Durch die Halle schwebt das Mädchen,

Schwarzen Schleier um die Locken,

Marmorbleich die edeln Züge,

Doch im Auge Siegesstolz.


»Edle Herrn,« spricht sie, »und Richter,«

– Und sie breitet auf die Tafel

Wehrgehäng und Dolch und Gürtel –

»Zeugnis komm' ich abzulegen

Vom Geheimnis dieser Nacht.


Diese Nacht hat der Signore

Vor den Toren von Ravenna

Meinen Oheim nicht ermordet,

Denn Signore Loredano –

Diese Nacht – war er – bei mir.«


Sprach's und aus dem Gürtel riß sie

Fortunatos Dolch und hob ihn: –

Doch es fiel von vorn der Konsul,

Von der Rechten der Geliebte

Selber rasch ihr in den Arm.


Und es sprach der alte Konsul:

– Tränen standen ihm im Auge –

– Tränen auch den andern Richtern –

»Niemals hat ein Weib auf Erden

Eine schönre Tat getan.


Heil, Ravenna, dir und Frieden!

Guelfen hört's und Ghibellinen,

Nun ist aller Streit geschlichtet

Und die Hochzeitglocken läuten:

Loredan und Vendramin.«

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 368-370.
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