Lady Angus und jung Kenneth

[407] 1.

»O komme, jung Kenneth, dich lieb' ich mit Macht,

O komme zur Sonnwend um Mitternacht.

Vor Sonnwend zieht Lord Angus zu Feld, –

Nicht kann er uns stören, der graue Held:

Ich öffne dir Garten und Erker und Arme,

Daß in Flammen dein kühles Herz erwarme.«
[407]

»Laß ab, Lady Angus, und locke mich nicht!

Gern schau' ich, gern sing' ich dein schönes Gesicht:

Doch scheu' ich Lord Angus im grauen Haar

Und den Wächter am Tor und den Wolfshund gar:

Leicht hört man den Schritt auf dem Marmorhofe

Und dicht an dem Erker dir schläft die Zofe.«


»Den Wächter am Tor stillt schwerer Trank, –

Den Wolfshund kett' ich zur Eichenbank, –

Den Hof bestreu' ich mit Binsen ganz, –

Die Zofe schick' ich zum Sonnwendtanz: –

Leis öffn' ich dir selber den knarrenden Riegel

Und schließe den Mund dir mit glühendem Siegel.«


»Laß ab, Lady Angus, und lade mich nicht!«

»Sag', bist du ein Ritter oder ein Wicht?

Wohl schlägst du die Laute, den Federball

Und tanzest geschmeidig in bunter Hall'

Und lispelst von Lieb' und Liebesgabe,

Doch heißt es ein Mann sein, – da zittert der Knabe!«


»Lady Angus, du machst mir die Wangen rot!

Ich komme lebendig, wohlan, oder tot:

Und geb' ich uns in der Hölle Macht: –

Ich komme zur Sonnwend um Mitternacht,

Du hast mich bezwungen, du hast mich beschworen –

Ich komme und sind wir beide verloren!« – –


2.

»Den Wächter am Tor bannt schwerer Trank, –

Der Wolfshund schläft an der Eichenbank, –

Den Hof bestreut' ich mit Binsen ganz,

Die Zofe tanzt auf dem Sonnwendtanz,

Der Himmel ist dunkel und leer von Sternen, – –

Jung Kenneth, nun sollst du das Küssen lernen!«
[408]

Die Turmuhr schlägt die Mitternacht, –

Lady Angus öffnet die Pforte sacht, –

Da steht er schweigend im Portal:

»Mein Süßer, wie bist du so kalt, so fahl?

Und auf weißem Wams ein dunkler Flecken: –

O laß die Arme, mich tötet der Schrecken!« – –


Doch er schnürt die Arme ihr um den Leib

Und preßt an die Brust das entseelte Weib:

»Lady Angus, dein Gatte stach mich tot!

Ich aber kam auf dein Gebot:

Du hast mich bezwungen, du hast mich beschworen

Und auf ewig sind wir beide verloren.«

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 407-409.
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