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[246] Kein Säumen mehr gestattete die Stunde
Da schon den Mittagskreis dem Stier die Sonne,
Die Nacht dem Skorpion gelassen hatte.
Drum, gleich dem Mann, der, was ihm auch begegne,
Nicht anhält, sondern seines Weges fortgeht,
Weil stachelnd die Notwendigkeit ihn antreibt,
So traten, einer auf den andern folgend,
Wir in die Schlucht, hinan die Treppe steigend,
Die, weil sie eng ist, die Ersteiger trennet.
Und wie der kleine Storch, der flugbegierig
Den Flügel hebt, doch, weil das Nest zu lassen
Er sich nicht traut, ihn wieder sinken läßt,[246]
So war zugleich mein Wunsch zu reden brennend,
Und doch erloschen, so daß meine Lippen
Wie die des Redenwollenden sich regten.
Wie eilig wir auch gingen, doch bemerkt' es
Mein süßer Vater, und: – Drück ab den Bogen
Des Wort's, der bis zum Schloß gespannt ist, – sagt' er.
Da öffnet' ich vertrauensvoll den Mund
Und sagte: Wie ist Magerwerden möglich,
Wo kein Bedürfnis der Ernährung vorliegt? –
Gedächtest du des Meleager, sprach er,
Der vom Verbrennen eines Holzscheit's sich
Verzehrt, so schiene dies dir minder schwierig.
Und dächtest du, wie, wenn ihr euch bewegt,
Eu'r Bild im Spiegel die Bewegung nachahmt,
So würdest, was dir hart scheint, weich du finden.
Doch, daß hierin nach Wunsch du heimisch werdest,
Ist Statius hier zur Hand; ihn ruf' und bitt' ich,
Daß diese Wunden dir er völlig heile. –
Entfessl' ich ihm den Blick für ew'ge Dinge,
Wo du zugegen bist, war Statius' Antwort,
So tu' ich's, weil ich nichts dir kann versagen. –
Dann hub er an: Mein Sohn, wenn meine Worte
Dein Geist recht in sich aufnimmt und bewahret,
So werden sie dir Licht für deine Frage.
Vollkommnes Blut, das von den durst'gen Adern
Niemals getrunken wird und übrig bleibt,
Wie Nahrungsmittel, die vom Tisch man abhebt,
Empfängt im Herzen Bildungskraft für alle
Gliedmaßen, gleich dem Blute, das die Adern
Durchströmt, um jene Glieder zu gestalten.
Nochmals gereinigt, steigt es dorthin nieder,
Wovon man besser schweigt als spricht, und träufelt
Auf fremdes Blut in passendem Gefäße.
Da eint mit diesem jenes sich; das eine
Geschickt zum Leiden, wie zum Tun das andre,
So edel ist der Ort, von dem es herstammt.[247]
Also verbunden fängt es an zu wirken,
Macht erst gerinnen, und belebt alsdann
Was fest geworden war, durch seinen Einfluß.
Die tät'ge Kraft, die nun zur Seele wurde
Gleich der der Pflanze, mit dem Unterschiede,
Daß jene weitergeht und dies' am Ziel ist,
Bewirkt Gefühl schon und soviel Bewegung
Als die des Meerschwamms; dann beginnt Organe
Den ihr entkeimten Kräften sie zu bilden.
Nun, Sohn, entfaltet sich, nun dehnt die Kraft
Sich aus, die des Erzeugers Herz entstammet,
Wo die Natur dem ganzen Gliedbau obliegt.
Doch wie zum Kinde wird solch tierisch Wesen
Siehst du noch nicht, und diese Schwierigkeit
Ließ einen Weiseren, als du bist, irren,
Weil er in seiner Lehr', als von der Seele
Getrennt, den fähigen Verstand behandelt,
Für den kein eigenes Organ er vorfand.
Tu' auf der Wahrheit, die dir naht, dein Herz
Und wisse, daß sobald dem Ungebornen
Die Glied'rung des Gehirns gebildet ist,
Sich freudig solchem Kunstwerk der Natur
Der Urbeweger zukehrt, neuen Geist ihm
Einhauchend, welcher mit der Kraft begabt ist,
Was er dort tätig findet, in sein Wesen
Hineinzuziehn, nur eine Seele bildend,
Die lebt und fühlt und in sich selbst zurückkehrt.
Damit du weniger dies Wort bewunderst,
So denke, wie, der Rebe Saft verbunden,
In Wein die Glut der Sonne sich verwandelt.
Hat Lachesis dann ihren Flachs geendet,
Löst sich der Geist vom Fleisch als Fähigkeit
Mitnehmend Göttliches wie Menschliches.
Und wenn die andren Kräfte all' verstummen,
So bleibt Erkenntnis, Wille und Erinn'rung
In Tätigkeit, viel schärfer als zuvor.[248]
Die Seele fällt von selber ohne Weilen
An eins der beiden Ufer wunderbar;
Den ihr beschiednen Ort erfährt sie dort erst.
Ist dann ein fester Raum ihr angewiesen,
So strahlt ringsum aus ihr die Bildungskraft,
Wie einst sie tat in den lebend'gen Gliedern.
Und wie die Luft, wenn sie des Regens voll ist,
Durch fremde Strahlen, welche sie zurückwirft,
Geschmückt wird mit gar mannigfachen Farben,
So bildet hier die nachbarliche Luft
Zu der Gestalt sich, die durch geist'ge Kraft
Die Seele, die dort weilet, in ihr ausprägt.
Und ähnlich, wie die Flamme stets dem Feuer,
Wie sehr dies auch den Ort vertausche, nachfolgt,
So folgt dem Geiste seine neue Form.
Und weil er nur durch sie Erscheinung hat,
Wird Schatten sie genannt, und jeden Sinn
Gewährt sie ihm, mit Inbegriff der Sehkraft.
Sie ist's durch die wir reden, sowie lachen,
Durch die so Tränen wir als Seufzer bilden,
Gehört wirst du den Berg herauf sie haben.
Wie uns ein Wunsch und sonstige Erregung
Ergreift, das drückt sich aus in jenen Schatten;
Das ist der Grund von dem, was dich verwundert. –
Schon waren wir zur letzten Büßerqual
Gekommen, und nachdem zur rechten Seite
Wir uns gewandt, ergriff uns andre Sorge.
Hier nämlich wirft die Felswand Flammen aus;
Dagegen bläs't ein Wind am Rand' empor,
Der sie, zurückebiegend, von ihm abhält,
So mußten wir denn, einer nach dem andern
Am offnen Rande hingehn, und ich scheute
Das Feuer links und rechts hinabzufallen.
Mein Führer sprach: An diesem Orte muß man
Gar kurz im Zügel seine Augen halten;
Denn übel irren könnte man um wenig. –[249]
Dann hörte mitten in der heißen Glut
»O Gott, an höchster Gnade reich« ich singen,
So daß ich doch dorthin mich wenden mußte.
Da sah ich Geister durch die Flammen wandeln,
So daß auf sie und meine Schritte schauend,
Von Zeit zu Zeit die Blicke ich verteilte.
Und als sie jenes Lied vollendet, riefen
Sie alle laut: »Ich weiß von keinem Manne«;
Dann wiederholten leise sie den Hymnus.
Nach dessen Schlusse riefen sie: Es blieb
Im Walde Diana, Helice daraus
Verjagend, die der Venus Gift gekostet. –
Dann kehrten zum Gesange sie, und nannten
So Frau'n als Gatten, welche keusch geblieben,
Wie Tugend es und Ehepflicht erfordert.
Ich glaub' in diesem Wechsel fahren dauernd
Sie fort, solange sie dies Feuer brennet.
Mit solcher Arzenei, mit solcher Speise
Wird endlich zugeheilt die alte Wunde.
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