[Gebadet und gesalbt von Myrrhe troff ich]

[182] Gebadet und gesalbt von Myrrhe troff ich,

Von köstlicher, balsamischen Geruchs;

Ich harrte des Geliebten in der Nacht,

Ich harrete vergeblich und entschlief.

Da pocht es, horch! – Des Freundes Stimme tönt:

»Thu' auf, o meine traute Schwesterseele,

Thu' auf, o meine zarte Taube mir!

Feucht ist mein Haupt, es träuft die Locke mir

Vom Thau der Nacht; o säume nicht und öffne!«

Beraubt der Sinne bin ich vor Entzücken

Ob dieser Stimme Klang; es schlägt mein Herz

Mit lautem Schlage seinem Glück entgegen;

Ich fliege, reiße den Riegel rasch zurück

Und späh' erschrocken in die leere Nacht,

Entwichen ist, verschwunden ohne Spur

Mein süßes Heil. Ich rufe – niemand hört!

Ich hülle mich in meinen Mantel ein,

Ich walle manche dunkle Straße hin,

Ich wage mich in's freie Gefild hinaus,

Ich suche meinen Freund und such' umsonst.

Da finden mich die Wächter, die die Mauern

Der Stadt umwandeln; sie ergreifen mich,

Sie reißen mir den Mantel ab, sie schlagen

Mich weh und wund mit ihrer rauhen Faust –

Da wach' ich auf und merk', es ist ein Traum,

Ein böser Traum. – O ich beschwör' euch, Töchter

Jerusalems, begegnet euch mein Freund,[183]

Sagt ihm, daß ich vor Liebe matt und krank,

Thut ihm die Leiden meiner Seele kund,

Beschwöret ihn, so wie ich euch beschwöre:

Er eile, komme, küsse mich gesund!

Quelle:
Georg Friedrich Daumer: Hafis. Hamburg 1846, S. 182-184.
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