Abenddunkel im Tann

[150] Kommt's Abenddunkel in den Tann,

Dann jede Tanne spuken kann.

Am Tag da sangen goldene Ammern

Drin in den finstern Nadelkammern.

Und als ob man getanzt da hätte,

So ist am Boden noch die Glätte.

Von Kleidern einer Mädchenschar

Hängt's Spinnlein Fäden mir ins Haar,

Wie eines Ärmels weißer Zipfel

Steckt noch der Mond am Tannengipfel.

Es möchte, könnt es mir gelingen,

Mein Schatten nach den andern springen.

Viel Unruh rückt an meinem Schuh,

Die Tanne sticht mit Nadeln zu.

Die Stämme sind wie Menschen warm,

Fühl' alle Welt und nichts im Arm,

Und eile heim, weil einen Kuß

Bei meinem Schatz ich los sein muß.


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Max Dauthendey: Gesammelte Werke in 6 Bänden, Band 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen, München 1925, S. 150-151.
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