Bleibt die Geliebteste zu lang aus

[142] So viele Haare,

So viele Gedanken

Sich sonst um meinen Schädel ranken.

Doch heut nach meiner Gedankenzahl[142]

Bin ich am Schädel ratzekahl.

Die Sehnsucht hat mir ohn' Gewissen

Das letzte Härlein ausgerissen.

Und wie des Müllers Esel dumm

Trag ich als Sack mein Hirn herum.

Alles, was ich im Leben verstund,

Hält vor der Sehnsucht erschreckt den Mund.

Die Worte fallen wie Balken schwer,

Gedruckte Bücher sind plötzlich leer,

Und bleibt die Geliebteste zu lang aus,

Sitze ich ganz verblödet im Haus.

Alles werd' ich wieder neu lernen müssen,

Vielleicht sogar lieben und küssen.


Quelle:
Max Dauthendey: Gesammelte Werke in 6 Bänden, Band 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen, München 1925, S. 142-143.
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