Die Schnupftabaksdose

[275] Wir haben alle unsere Fehler. Der gute Dom Martino ist ein frommer und redlicher Priester, der von seiner kleinen Pfründe den Armen gibt, was er kann, und oft genug auch, was er nicht kann. Seine Haushälterin muß viel mit ihm zanken, denn sie hat ja schließlich die Verantwortung dafür, wenn der gute Herr in einer Soutane herumläuft, die auf den Schulterblättern und dort, wo man zu sitzen pflegt, große Flicken aufweist, die man hundert Schritte weit sieht, denn die Soutane war aus dem billigsten Stoff gemacht und ist ganz fuchsig geworden, so daß die kohlschwarzen neuen Flicken häßlich abstechen. Es kann geschehen, daß sie ihn dahin treibt, sich endlich ein Paar neue Stiefel anmessen zu lassen; der Schuster bringt sie, hält sie ihm vor das Gesicht und erklärt, daß ein junges Mädchen sie als Spiegel benutzen kann, daß sie geschmeidig sind wie aus Handschuhleder, denn er weiß, Hochwürden geruhen, Hühneraugen zu haben; und derb sind sie, wenn die Sohlen nicht ein ganzes Jahr halten, dann besohlt er sie umsonst, natürlich, man darf sie nicht gleich immer den ganzen Tag tragen. Die Haushälterin freut sich über die neuen Stiefel, denn wer hat denn die Stiefel zu putzen? Und verspricht dem Schuster, daß sie geschont werden sollen, und rechnet sich aus, daß Hochwürden sich nun im nächsten Vierteljahr auch eine neue Soutane machen lassen kann. Aber da kommt ein Strolch, mit Schuhen, die vorn klaffen wie der Rachen eines Hundes, dem man eben einen Knochen zuwirft; er sagt, daß er beständig Zahnreißen hat, weil er nie trockene Füße bekommt, und was das Schlimmste ist, daß durch den ewigen Schnupfen seine Nase rot geworden ist; wodurch die Leute ihn für einen Trunkenbold halten und ihm nichts geben. Der gute Dom Martino schüttelt den Kopf, wie er die klaffenden[276] Schuhe sieht, geht in seine Schlafstube, wo er die neuen Schuhe auf dem Kannrückchen stehen hat, und schenkt sie ihm. Die Haushälterin weint und kündigt. Dom Martino ist verlegen, denn die Haushälterin kündigt zwar regelmäßig jedes Vierteljahr, aber er glaubt immer wieder, daß sie diesmal wirklich gehen wird, und dann hat er keine Haushälterin mehr. Er setzt ihr auseinander, daß die alten Stiefel dem armen Mann ja gar nichts genützt hätten, daß sie fast ebenso schlecht sind, wie die Stiefel des Mannes waren, er erzählt ihr, daß jetzt Herbst ist, wo die großen Regen kommen, da muß der Mann doch ordentliches Schuhzeug haben: er sagt ihr, daß in der Stadt die Straßen gepflastert sind, und daß er ja immer seine Filzschuhe anzieht, wenn er nach Hause kommt, und so ein armer Mann muß auf den grundlosen Landstraßen tippeln, und wenn er in die Herberge kommt, dann findet er keine Filzschuhe vor. Die Haushälterin antwortet ihm nichts; sie macht ein ehernes Gesicht, ein undurchdringliches Gesicht; die Tränen hat sie sich abgewischt; sie überlegt im stillen, daß es mit dem hochwürdigen Herrn nur schlimmer wird, wenn sie fortgeht, denn eine anständige Person kommt doch nicht zu ihm, wenn sie die Stiefel sieht und die Soutane; sie beschließt, bei ihm zu bleiben; aber er soll es einmal merken, daß sie sich nicht auf der Nase herumtanzen läßt, daß sie auch ihren Willen hat; sie will doch einmal sehen, ob sie ihn nicht klein kriegt.

Aber sie kriegt ihn nicht klein, denn am nächsten Tage hat er schon alles vergessen, und wie er seine Stiefel anzieht, da sagt er: »Durch den Herbst komme ich Wohl noch mit den Stiefeln, aber für den Winter kann ich die Ausgabe doch nicht umgehen, sie besohlen zu lassen.« Sie hat sonst auf diese Rede immer geantwortet, daß das Besohlen sich nicht mehr lohnt und daß er ja die alten Stiefel im Sommer bei trockenem Wetter zerreißen könne, und so hatte sie ihn allmählich[277] dahingebracht, daß er sich die neuen Stiefel anmessen ließ; aber nun kann sie nicht mehr sprechen; sie stellt sich vor, wie der Strolch die schönen neuen Stiefel in der Penne für sechs Soldi verklopft, und der Groll steigt ihr aus dem Herzen hoch, sie schweigt und wendet sich ab.

So ein Mann also ist Dom Martino.

In den Handbüchern, welche die Gauner und Bettler für jede Stadt haben, ist sein Name mit drei Kreuzen bezeichnet; das heißt, daß es bei ihm immer etwas gibt; freilich stehen auch die Zeichen dabei, daß es nicht viel ist und daß er zugleich mit seiner Gabe immer gute Lehren spendet. Natürlich haben die besseren Gauner mit solchen Persönlichkeiten nichts zu tun, denn das Anhören der Lehren kostet Zeit, und es lohnt sich nicht, für einen Soldo den ganzen Vormittag zu opfern. Aber das Leben geht auf und ab. Lange Rübe hat eine ganze Weile nichts verdient, er hat große Ausgaben gehabt, er hat nichts in Aussicht; und kurz und gut, er ist in einer Lage, wo man auch einen Soldo mit einer christlichen Ermahnung brauchen kann.

Also Lange Rübe klingelt bei Dom Martino; die Haushälterin öffnet, betrachtet ihn mißtrauisch, sagt sich dann aber, daß der junge Mann zu gut aussehe, um zu betteln, und macht ein freundliches Gesicht, als Lange Rübe sie mit vollendeter Höflichkeit als Fräulein anredet, und führt ihn dann zu ihrem Herrn. Sie hätte ihn ja auch so hineinführen müssen, denn Dom Martino hat ihr streng verboten, jemanden abzuweisen, aber bei Personen, die ihr verdächtig sind, macht sie doch immer einen Versuch, abzuschrecken. Freilich, die meisten Besucher überwinden gewöhnlich größere Schwierigkeiten.

Dom Martino hat eine heftige Erkältung, weil er sich nasse Füße geholt hat bei einem Gang zu einem kranken Wucherer; er hatte ihn ermahnt, von seinem schlechten Leben zu lassen und den Leuten Gutes zu tun, und der Wucherer hatte sich[278] als hartherzig erwiesen und hatte immer gesagt, ihm tue auch niemand Gutes; die seelische Erregung war bei dem guten Herrn zu den nassen Füßen gekommen, und so war die Erkältung auf die Ohren geschlagen. Er sitzt in seinem alten Lehnstuhl, den Kopf eingewickelt, und auf beiden Seiten mit einem Trichter im Ohr, er hält abwechselnd den einen und den anderen, um sich zu bähen, über einen dampfenden Topf mit Kamillentee, den er zwischen die Beine geklemmt hat.

Lange Rübe erzählt eine verwickelte Geschichte von einem sterbenden Vater, den er besuchen müsse, und von der weiten Reise, die er schon gemacht hat, und daß ihm das Geld ausgegangen ist, und daß er niemanden hier kennt, der ihm aushelfen könnte. Der gute Dom Martino schüttelt bekümmert den Kopf; ja, Reisen kostet Geld, heutzutage ist die Gastfreundschaft verschwunden, welche doch sogar die Heiden übten, ein Reisender muß für alles bezahlen, und womit soll er verdienen, wenn er doch reist? Lange Rübe hat ihm gleich gefallen, als er eintrat. Er ist ein frommer Sohn, und Gott wird ihm sein Opfer auch vergelten. Wie mancher junge Mann würde sagen: »Habe ich Geld, um zu reisen?« Lange Rübe besinnt sich nicht, sondern reist. Das ist Gottesdienst, an das Bett des sterbenden Vaters zu eilen.

Nun kommt aber die Schwierigkeit. Dom Martino hat nämlich sein ganzes Geld ausgegeben. Es war ein Mann dagewesen, der Geld sammelte, um Christensklaven bei den Türken einzulösen, einer, der gefallene Mädchen rettete, eine Frau, deren Mann Dachdecker war und nun immer Schwindel bekam, wenn er auf eine Leiter stieg, ein Mädchen, das eine gute Anstellung in einer feinen Familie auswärts hatte, aber kein Reisegeld besaß, eine alte Frau, die einen Brief an ihren Sohn hatte schreiben lassen, um ihn zu einem christlichen Leben zu ermahnen, aber den Brief nicht frei machen konnte, und noch verschiedene andere Personen.[279]

Und jetzt müssen wir von der Schwäche des guten Dom Martino sprechen. Sie ist seine einzige Schwäche. Er selber bezeichnet sie als Laster; aber das ist zu hart geurteilt, es ist nur eine Schwäche, ja, man kann sagen, eine kleine Schwäche; Dom Martino schnupft nämlich leidenschaftlich gern.

Der eine liebt die Frauen, der andere den Wein, der dritte das Spiel, der vierte ist allgemein vergnügungssüchtig, der fünfte liebt das Geld; irgendeinen Fehler haben alle Menschen; auch ein Priester ist nur ein Mensch. Wir wollen ja nicht sagen, daß Dom Martino das Schnupfen gerade in sündhafter Weise liebt; aber er liebt es doch mehr, als er eigentlich als Christ und als Priester dürfte, und sein eigenes Bekenntnis zeigt, daß er das weiß. Er hat die Dose neben seinem Bett stehen, und wenn er aufwacht, dann nimmt er eine Prise, er sagt, daß die Morgenprise das Gehirn klärt von den Dünsten der Nacht. Dann wäscht er sich und nimmt wieder eine Prise, denn er ist frostig, und die Prise erwärmt ihn innerlich. Er zieht sich fertig an und geht in sein Studierzimmer hinunter; dabei nimmt er eine Prise, denn er muß sich mit gesammeltem Gemüt an seine Arbeit setzen. Und so nimmt er viele Prisen den Tag, und unter der Nase ist seine Oberlippe bräunlich gefärbt, und die Tabakskörner sitzen in den Falten der Soutane, und die jungen Mädchen, welche ihm fromm die Soutane küssen, müssen alle niesen.

Dom Martino nimmt seine Tabaksdose vor. Sie ist bloß von Messing, und sie hat keinen großen Wert, und er besitzt sie seit dreißig Jahren, aber er hat sie immer geschont, und sie ist zwar etwas abgescheuert, aber das Gelenk ist fest und sie schnappt tadellos zu; sie ist so gut wie eine neue. Er sagt sich, bei seiner Erkältung ist es ohnehin besser, wenn er nicht schnupft, denn die Nase läuft ihm schon so, und er kann ja seinen Schnupftabak auch immer in einem Papierchen bei sich tragen; er hat genug Papier im Haus, mehr als er brauchen kann.[280]

So erklärt er denn Lange Rübe mit Beschämung, daß er kein Geld mehr habe und daß er ihn vielmals um Entschuldigung bitte, denn er könne sich wohl denken, wie ihm zumute gewesen, als er ihm alles erzählt, denn er habe als Fremder ja doch nicht wissen können, ob er, Dom Martino, nicht ein schlechter Mensch sei und sich seinen Pflichten entziehe, denn der Priester sei nur der Verwalter des Geldes der Armen; aber jetzt werde er ihm gewiß glauben, daß er nicht lüge, wenn er sage, daß er kein Geld habe. Und nun habe er überlegt, ob er ihm nicht etwas von Geldeswert geben könne, aber es sei ihm nichts eingefallen, denn er besitze wenig, weil er sich aus den äußeren Dingen nicht viel mache, die ja den Menschen eigentlich nur stören. Nur diese Schnupftabaksdose könne er ihm geben; es sei eine gute Dose, für die er gewiß einige Paoli bekommen werde; er dürfe sie nicht verschleudern, sondern er müsse sie dem Trödler genau zeigen, daß sie zwar gebraucht sei, aber keinen Fehler habe. Mit dem Gelde könne er ganz gut einen Tag weiterkommen, und dann werde ihm schon jemand weiterhelfen, denn bei einem so guten Werk fehle Gottes Hilfe nie, er dürfe nur nicht verzagen, und wenn er etwas anderes gehabt hätte, dann hätte er ihm das gegeben, damit er nicht noch einmal zu jemand gehen müsse.

So nimmt er noch einmal zerstreut eine Prise, dann reißt er aus einem alten Buch, das da auf dem Tische liegt, ein Blatt, schüttet den Tabak aus der Dose darauf, faltet es und steckt das Päckchen in die Tasche, und die Dose gibt er Lange Rübe.

Lange Rübe empfängt die Dose mit einer Verbeugung und steckt sie in die Brusttasche; er ist etwas befangen, und deshalb wird sein Dank sehr wortreich; Dom Martino segnet ihn und läßt ihn gehen.

Die Haushälterin hat ja keine Liebe für den Schnupftabak und die Dose. Sie hält das Schnupfen für einen Charakterfehler.[281] Aber wie sie nun erfährt, daß der ehrwürdige Herr die Dose verschenkt hat, da wird sie doch böse; sie schlägt sich mit der flachen Hand vor die Stirn, daß sie dem Fremden nicht angesehen hat, was er wollte; sie fragt den ehrwürdigen Herrn, ob nun auch alle Taschen voll Schnupftabak sein werden; sie niese sich schon jetzt die Seele aus dem Leibe, wenn sie seine Kleider klopfe; sie fragt ihn, ob er die Dose ordentlich gefüllt habe, damit der Herr Bettler auch etwas zu schnupfen habe, denn die leere Dose nütze ihm doch nichts; sie bedauert, daß der ehrwürdige Herr nicht einen Weinkeller besitze und daß nicht eine gebratene Gans mit Trüffeln dagewesen sei, um dem feinen Herrn etwas vorzusetzen, und so führt sie noch mehr hitzige Reden, indessen Dom Martino sich geduldig mit seinen Trichtern abwechselnd über den Kamillentopf beugt und bäht.

Lange Rübe ist in einem sehr verdrießlichen Zustand. Er sieht die Dose an, steckt sie in die Tasche, sieht sie wieder an, steckt sie wieder ein. Ein paar Paoli kann er für sie bekommen, und er könnte ein paar Paoli wirklich gebrauchen, er ist abgebrannt; seit drei Tagen hat er nichts Warmes gegessen. Er kennt einen Keller, wo man für einen Soldo einen großen Teller voll Bohnen bekommt; man muß die Wirtin nur um die Taille greifen, wenn man bestellt, dann schimpft sie und legt noch ein Stück Fleisch hinzu. Aber er hat keine Lust zu den Bohnen und zu dem Fleisch.

Ein Blatt Papier fliegt vor ihm auf der Straße hin; es ist unbeschmutzt und fast unbeschrieben, ein Advokatenschreiber, der ein paar Schritte weiter vorn geht, hat es verloren. Lange Rübe läuft hinter dem Papier her, erwischt es, wickelt die Dose sorgfältig ein und geht zum Haus des Priesters zurück.

Er klingelt, und die Haushälterin öffnet. Sie will anfangen zu schimpfen, aber er drückt ihr schnell das Päckchen in die Hand und läuft fort.

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 275-282.
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