[16] Warst eben aus der Kirche gekommen,
Das junge Herz noch heilig beklommen,
Aber doch wieder weltlich so weit,
Daß du mir zur linken Seit
Brav Brötchen schmaustest am Frühstückstisch,
Und nach dem Brötchen frech und frisch
Das größte Stück nahmst von der Torte.
Zur Rechten mir sprach würdige Worte
Der Großpapa. Ihm hatte vor allen
Des Herrn Pastoren Text gefallen:
»Der Glaube macht es, der Glaube allein.
Des sollen wir denn getröstet sein,
Nicht lassen durch Spott und Hohn uns rauben
Den wahren, einfältigen Christenglauben.«
Der Papa nach seiner stillen Art
Lächelt in den weißen Bart:
»Ich würde das alles auch unterschreiben,
Wär ich Pastor. Bins nicht, laß es bleiben.«
Auch ich hätt gern vermerkt, was ich dacht,
Aber es war nicht angebracht.
Achte den Glauben nicht gering,
Es ist um den Glauben ein trefflich Ding,
Und ging er dir über in Fleisch und Blut,
Fährst du wahrlich mit ihm gut.
Von mir schon längst er Abschied nahm,
Irgendwo mir abhanden kam.
Sind mir nur die zwei andern geblieben:
Das Hoffen, Kind, und das Lieben, das Lieben.
Mit diesen beiden kam ich bisher
Leidlich zurecht, oft etwas für quer,[16]
Aber alles in allem genommen,
Bin ich dabei zu Gewinn gekommen,
Und möchte im Leben nicht anders fahren,
Und bin doch schon einigermaßen bei Jahren.
Du hast nun die Schule erst hinter dir,
Die Welt liegt vor dir, ein blühend Revier,
In das deine schönen, großen, grauen
Augen erwartend und ahnend schauen.
Dein schwarzes Kleid, dein süßes Gesicht,
Deines Zöpfchens blondbraun Licht,
Dein kindlich Wesen, dein schwellender Mund,
Dein junger Leib, frisch und gesund:
Wie ich so neben dir sitze, geht
Es wie ein tief und fromm Gebet
Durch mein ungläubig Herz, und leis,
Verstohlen, nach frommer Beter Weis,
Kreuz ich die Finger: Hoffen und Lieben,
Die treu mir alle Tage geblieben,
Wendet auch diesem Kind euch zu,
Streut eure Rosen vor seinem Schuh,
Daß es gleich mir mit hellem Mut
Spricht dereinst: Das Leben ist gut.
Du aber, Liebe, reich mir sacht
Das Glas jetzt, ihr seis dargebracht.
»Mein Fräulein, Ihr spezielles Wohl.« –
Daß doch der Teufel das Rotwerden hol!
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