Am Bahnübergang

[23] An der Barriere zum Halt gezwungen

Lief mein Blick längs den Eisenschienen.

Pustend und schnaubend aus feurigen Lungen,

Raste der eiserne Renner heran.

Funken schwärmten gleich zornigen Bienen.

Rasselnd folgte der Wagen dann

Endlose Kette nach, wie der lange

Wälzende Leib einer Riesenschlange.


Wie der Zug so vorübergesaust,

Griff er ans Herz mir mit rascher Faust:

Stehst hier und gaffst, komm mit, komm mit!

Bis ans Ende der Welt sind nur drei Schritt.

Und ich sah ihn verschwinden, weit, weit,

Sah die Welt in lachender Herrlichkeit,

Der Berge Kronen, der Thäler Grün,

Versteckte Dörfer, die Felder im Blühn.

Sah Städte und Ströme in sausendem Flug,

Bis des Oceans Atem entgegen mir schlug.

Und das Herz ward mir weit, und das Herz ward mir weit!

Auffahrend streckt ich im Sehnsuchtsdrang

Die Arme nach dem entrollenden Klang

Des Länderläufers im Eisenkleid.[24]

Da ächzt und krächzt die Barriere empor,

Und der bis ans Ende der Welt sich verlor,

Findet sofort mit gelindem Schreck

Sich wieder auf dem alten Fleck.

Sieht auf der andern Seite der Schienen

Ein blondes Kind mit Unschuldsmienen,

Ein menschgewordenes Sonnenstrahlchen,

Irgend ein Mienchen oder ein Malchen.

Das lacht mit hellen Augen heraus

Aus dem modischen Hut, groß wie ein Haus.

Trippelt die Kleine übers Geleise,

Streif' ich das Kleid ihr zufallsweise,

Seh' ihr ins Auge so obenhin,

Lacht eine ganze Welt darin.


Lange noch nach dem reizenden Kind

Sah ich mir fast die Augen blind,

Brach mir vom nächsten Busch einen Raub,

Ein Zweiglein mit erstem Frühlingslaub.

Sorgsam barg ich's im Taschenbuch. Oft

Soll's mich erinnern, wie unverhofft

Sich das Dirnlein ein Herz einfing,

Das schon auf Reiseschuhen ging.


Quelle:
Gustav Falke: Mynheer der Tod. Hamburg 1900, S. 23-25.
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