|
[70] Rechts die Fabrik mit ragendem Schlot,
Und der Bahnhof, wie tot,
Mit hartem, kaltem Beamtengesicht.
Links, nur auf sandigem Wege erreichbar,
Einem Schmutzfleck vergleichbar
Im Landschaftsbild,
Die Glashütte. – Wild
Und wüst umher: Schutt, Scherben und Schlacken.
Ein Männerstiefel, zerlocht, ohne Hacken,
Und ein rostiger, zerbeulter Kessel
Feiern in Klee und Nessel
Unterm Heckengehege
Am Wege.
Arbeiterwohnungen, langgestreckt
Unter ein Dach gesteckt,
Weiß getüncht, doch sauber nicht,
Verfreundlicht von vollem Sonnenlicht.
Vor allen Thüren Kinder und Weiber.
Die Männer sitzen beim Zeitvertreiber,
Beim Bierskat, oder die Kegelbahn
Hat's ihnen angethan.
Es ist Sonntag heute. Nach Wochenplag'
Will der Mann einen frohen Tag.
Die Weiber tragen immer ihr Pack,[71]
Feiern zu Hause bei Kaffee und Schnack,
Haben immer zu thun,
Können selten ruhn.
Hahn, Hühner und Hennen
Mit piepsendem Völkchen scharren und rennen.
Unterm Zaun die große graue Katz'
Rückt nicht vom Platz
Und blinzt nach den Kücken.
Welch' Trippeln, Picken und Pflücken.
Auf dem Schutt, am Graben, am Weg, überall.
Bei jedem Haus fast ein Hühnerstall.
Auch Kaninchen mit weichen Fellen
Entschlüpfen Verschlägen, dummschlaue Gesellen,
An den Ohren zurückgetragen,
Wenn sie zu weit davon sich wagen.
Scherbengeflirr und -gefunkel,
Weibergeplausch und -gemunkel,
Kinderspektakel
Und Hühnergegakel
Überall.
Zwischen Fabrik und Fabrik der Wall,
Der Bahndamm mit blitzenden Eisensträngen,
Bekleidet mit blühenden Seitengehängen:
Haidekraut, Löwenzahn und kriechender Wicke.
Abseits im Knicke
Leuchten abblühender Dorn und Syringen.
Aus dem Gärtchen dringen,[72]
Des Bahnwarts Gärtchen, Jasmindüfte.
So still die Lüfte,
Keine Regung, kein Hauch,
Als wüssten sie auch,
Dass Sonntag heute,
Ruhtag. – – –
– – – Geläute!
Ein Bahnzug donnert heran und hält,
Bringt Aufruhr in die kleine Welt.
In roter Mütze der Herr »Inspekter«,
Die Schultern reckt er,
Würdebewusst und wichtig.
Wie nichtig
Erscheint sich der Kleine vom Dorf daneben.
Zum Abschied küsst er die Mutter soeben,
Die in die Stadt will, die Tante besuchen,
Halb denkt er an Bonbon und Kuchen
– Denn Moder bringt jümmers wat mit ut de Stadt –
Halb aber hat
Er Augen nur für das rote Tuch.
Der Zugführer wartet mit Bleistift und Buch.
Die Schaffner laufen. Ein Passagier
Ruft nach dem Kellner: Schnell ein Bier!
Thürenschlagen,
Schelten und Fragen.
Gleichmütig am Fenster erster Klasse
Steht eine Dame. Das feine, blasse[73]
Gesicht so müde, so abgespannt.
Sie gähnt übermannt.
Von den hässlichen Schloten
Der Fabrik und der roten
Inspektormütze und dem gaffenden Jungen
Ist ihr Blick hinübergesprungen
Auf das Wiesengelände jenseits des Dammes.
Bis zur fernen Linie des Hügelkammes
Zieht sich das grüne Gewoge hin.
Drei, vier Mäher darin
Müh'n sich um kärglichen Sonntagslohn.
Verloren herüber dringt ein Ton
Vom Schärfen des Stahls. Wie Punkte zeigen,
Die gegen die Bläue aufwärts steigen,
Sich schwebende Lerchen. Am Horizont,
So weit man sieht ist alles besonnt
Vom milden Juniabendglanz,
Liegt, wie ein halbgewundener Kranz,
Wald, von duftigen Schleiern umzogen.
Schnell haben das Stückchen Welt überflogen
Die müden Blicke teilnahmlos.
Die Welt ist so groß
Und tausendmal schöner wo anders, als hier.
Was ist dies Fleckchen Erde ihr?
Die Wiesen, die Mäher, die gaffenden Kleinen,
Die an der Barriere lachen und weinen,
Sich stoßen und schelten,
In Frieden selten;
Das blasse Weib mit dem Säugling dort,
Der ganze dürftige, rußige Ort.[74]
Wie alles sie langweilt. Abgewandt
Gähnt sie hinter behandschuhter Hand.
Wieder Geläute! Schreien und Laufen,
Ein gellender Pfiff, ein Pusten und Schnaufen.
Fern, fern verhallt's, verschwindet's. Husch!
Vorüber! Ein Spuk? – Im Fliederbusch
Flötet die Drossel, und leise, ting, ting,
Von den Wiesen herüber grüßt Sensengekling'.
Harmonikatöne von irgendwo.
Es ist doch Musik, wenn auch so so.
»Mädel ruck ruck ruck an meine grüne Sei – eite,
Ich hab dich ja zu gern« –
Aus duftiger Weite
Blinzelt lustig der erste Stern.
Wie lang, und vom Walde herüber kommt sacht
Querfeld auf weichen Sohlen die Nacht.
Ausgewählte Ausgaben von
Mynheer der Tod
|
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro