Fünftes Kapitel
Immer mehr Größe bei Wild, wie man sie weder in Geschichten noch in Romanen findet.

[99] Um nun den großen und edlen Plan auszuführen, der sich in seinem Kopfe gegen Hartfree angesponnen, war es durchaus nötig, dessen Zutrauen wiederzugewinnen. Aber diesem Entwurf standen so viele Schwierigkeiten gegenüber, daß sogar unser Held an dem glücklichen Erfolge zweifelte. Freilich übertraf ihn niemand in der Kunst, seinem Gesichte die gehörigen Falten zu geben; aber dies Unternehmen schien noch einen höheren Grad dieser edlen Kunst zu erfordern, als je ein Sterblicher erreicht hat. Dennoch beschloß er zuletzt, es zu versuchen, und aus dem glücklichen Erfolg seines Wagstückes können wir mit Recht den Schluß ziehen, daß Unverschämtheit ebensogut wie unverdrossene Arbeit alle Schwierigkeiten zu überwinden vermag.

Als er mit seinem Plane fertig war, ging er geradeswegs nach Newgate, stürzte sich Hartfree in die Arme, küßte ihn und, nachdem[99] er sich zuvörderst sein eigenes, rasches Verfahren vorgeworfen, und über den unglücklichen Ausgang seines Unternehmens gejammert hatte, benachrichtigte er ihn von allem, was vorgefallen war; nur daß er einen kleinen Umstand verschwieg, nämlich den Sturm, den er auf Hartfrees Weib gewagt hatte, und als den Beweggrund seines ganzen Benehmens seinen guten Willen, Hartfree vor den Folgen eines Bankerotts zu retten, angab.

Diese offene, freimütige Erklärung, die unbefangene Miene, mit welcher Wild sie machte, seine ängstliche Unruhe wegen dem Schicksal seines Freundes, die Wahrscheinlichkeit der ganzen Erzählung und den Anschein von Uneigennützigkeit, den dieser Besuch hatte, verbunden mit tausend Beteuerungen seiner ewigen Freundschaft, und das zu einer Zeit, wo Selbstliebe ihn unmöglich zu Hartfree zurückführen konnte; vor allen Dingen aber die Großmut, mit welcher er ihm seine Börse anbot – alles dieses fiel mit solcher Gewalt auf das gutgesinnte Herz dieses einfältigen Kerls, daß alle Vorurteile, die er gegen Wild gefaßt hatte, verschwanden. Als dieser ihn nun auf so guten Wegen sah, verwünschte er noch obendrein seine eigene Narrheit und seine zu voreilige Gutwilligkeit, seinem Freunde zu dienen, die jetzt allein an dem Unglücke desselben schuld sei; dann fluchte er auf den Grafen und gelobte, ihn mit seiner Rache durch ganz Europa zu verfolgen; zuletzt ließ er einige Trostworte fallen und versicherte Hartfree, sein Weib sei in gute Hände geraten und werde schwerlich weiter als bis nach Dünkirchen gebracht werden, wo man sie leicht ranzionieren könnte.

Hartfree, dem ein Schimmer von Hoffnung, daß sein Weib ihn nicht betrogen, willkommener gewesen wäre, als der reichlichste Ersatz für alle seine Juwelen, der sich auch nur mit Mühe hatte bereden lassen, dem kleinsten Zweifel an ihrer Treue Raum zu geben, ließ augenblicklich alles Mißtrauen gegen sie und gegen ihren Freund fahren, dessen Aufrichtigkeit zugleich mit der Aufrichtigkeit seines Weibes gerechtfertigt war. Er umarmte nun unseren Helden, der die tiefsten Spuren des Kummers auf dem Gesichte trug, sprach ihm Trost ein und sagte, man müsse Menschen nach ihren Absichten und nicht immer nach ihren Handlungen beurteilen; der Ausgang eines Unternehmens hänge oft vom Zufall, oft von der Lenkung eines höheren Wesens ab; Freundschaft könne sich meistenteils nur bis auf den guten Willen erstrecken. »Gesetzt auch, daß eine gute Absicht fehlschlägt, so behält sie doch immer ihr Verdienstliches in meinen Augen, und der Urheber derselben hat ein unverbrüchliches Recht auf mein Mitleid.«[100]

Hartfree erkundigte sich nun mit vieler Neugierde, wie Wild der Gefangenschaft entkommen sei, worin sein Weib noch schmachtete. Auch hier erzählte Wild die lautere Wahrheit; nur, daß er dem Kapitän, der ihn in die See ausgesetzt, ein anderes Motiv unterschob und versicherte, er habe ihn bloß darum mit so vieler Grausamkeit behandelt, weil er seine Juwelen hatte in Sicherheit bringen wollen. Überhaupt hielt sich Wild immer soviel als möglich an die Wahrheit und nannte dies, den Feind mit seinem eigenen Geschütze zudecken.

Als Wild nun mit bewundernswürdiger Geschicklichkeit den ersten Schritt getan hatte, erhob er ein mächtiges Gerede über die Bosheit der Welt; vorzüglich ließ er sich über die Grausamkeit solcher Gläubiger aus, die niemals auf die unglücklichen Umstände ihrer Schuldner Rücksicht nähmen, sondern sie ohne Barmherzigkeit sitzen ließen und von dem Rechte Gebrauch machten, das ihnen die allzu strengen Landesgesetze auf ihre Person gäben. Er meinte, dies Verfahren scheine ihm eine ebenso große Strafe zu sein, als die ärgsten Missetäter dulden müßten. Der Verlust der Freiheit wiege in seinen Augen den Verlust des Lebens vollkommen auf; er habe sich von jeher vorgenommen, eher das Äußerste zu wagen, als sich um seine Freiheit bringen zu lassen, wenn das Schicksal ihn in eine solche Lage bringen sollte; und dazu brauche es nur Entschlossenheit: denn sei es nicht lächerlich, daß sich zwei- oder dreihundert Menschen von drei anderen einsperren ließen, wenn sie Mut genug hätten, sich in Freiheit zu setzen, vorzüglich, wenn man ihnen weder Ketten noch Bande angelegt? In dem Ton fuhr er fort, bis Hartfree endlich aufmerksam wurde, und dann schlug er ihm ein Mittel zu seiner Rettung vor, das sehr leicht auszuführen wäre: er wolle sich nämlich eine Partei im Gefängnis machen, und sollten auch eine oder mehrere Mordtaten dabei vorfallen, so dürfte er (Hartfree) ja an dem Verbrechen keinen Teil nehmen, und würde folglich auch nichts von der Strafe zu fürchten haben.

Einen Unfall gibt es, dem die Pläne aller großen Männer unterworfen sind: um diese Pläne nämlich auszuführen, müssen sie sich ihren Werkzeugen entdecken und ihnen zu erkennen geben, daß sie von der Gemütsart sind, worein ein ehrlicher Mann zufolge der Warnung eines erbärmlichen Schriftstellers kein Zutrauen setzen soll; diese Warnung hat auch dann und wann gefruchtet. Die Wahrheit zu sagen, so wachsen den großen Männern von diesen schreibseligen Leuten, die ihren Verdacht dem Publikum immer so plump mitzuteilen pflegen, viele Unbequemlichkeiten zu; so mancher große und edle Plan ist durch sie vereitelt worden. Darum wäre[101] es wohl zu wünschen, daß solche Zügellosigkeiten in jedem wohlpolizierten Staat abgeschafft und unterdrückt würden. Eigentlich müßte kein Schriftsteller irgend etwas drucken lassen, bevor es nicht bei einem dieser großen Männer oder ihren Helfershelfern die Zensur passiert hätte; dann ließe sich noch hoffen, daß nur solche Schriften ins Publikum kämen, die zur Beförderung ihrer erhabenen Zwecke ein Großes beitrügen.

Hartfree, dessen Verdacht durch diesen wohlgemeinten Rat wieder rege ward, sah unsern Wild mit einem Blick voll unaussprechlicher Verachtung an und sprach wie folgt: »Es gibt ein Ding, dessen Verlust mir schmerzlicher sein würde, als der Verlust meiner Freiheit und meines Lebens; ich meine ein gutes Gewissen. Den Mann kann man nicht unglücklich nennen, der dieses Gut noch besitzt; der bitterste Trank des Elends wird durch seinen Trost so versüßt, daß es zuletzt sogar wohlschmeckend wird; und ohne ein gutes Gewissen verlieren auch die angenehmsten Genüsse allen ihren Reiz, ja, das Leben selbst wird unschmackhaft und schal. Wollen Sie mein Unglück dadurch erleichtern, daß Sie mir etwas nehmen, was bis jetzt bei allen meinen Leiden mein einziger Trost war, worauf meine einzige Hoffnung beruht, daß sie bald enden werden? Ich hatte gelesen, das Sokrates sein Leben nicht retten wollte, als man ihm riet, den Gesetzen seines Landes zum Trotz aus seinem Gefängnis zu entweichen, als es offen stand. Es kann sein, daß meine Tugend so weit nicht reicht; aber verhüte der Himmel, daß alle Rufe der Freiheit mich zu einem so schrecklichen Verbrechen, als ein Mord ist, nur versuchen wollten. Die elende Ausflucht, daß andere dies Verbrechen für mich begehen, könnte mir freilich willkommen sein, wenn ich nur der zeitlichen Strafe zu entschlüpfen suchte. Aber kann sie mich auch bei dem Wesen rechtfertigen, das ich vor allen anderen fürchte? Nein: dieser Versuch, ihn zu hintergehen, würde meine Schuld in Gottes Augen nur noch vergrößern, vorzüglich, wenn ich andere mit in mein Verbrechen zöge. Daher keinen Rat mehr von dieser Art! Denn mein größter Trost in allen meinen Leiden ist dieser, daß es nicht in der Gewalt meiner Feinde steht, mir mein gutes Gewissen zu rauben, und ich selbst müßte in der Tat mein größter Feind sein, wenn ich es nur beflecken wollte.«

Hörte unser Held dies gleich mit geziemender Verachtung an, so antwortete er doch nicht geradezu darauf; er bemühte sich vielmehr, seinem Vorschlag eine so gute Wendung zu geben, als es sich nur tun lassen wollte; und dies gelang ihm denn auch außerordentlich. Diese Methode, sich wieder herauszuwickeln, wenn man[102] einen vergeblichen Anfall auf das Gewissen eines Menschen getan hat, kann man füglich die Kunst, sich zurückzuziehen, nennen, und sowohl der Politiker als der General pflegen oft von dieser einen bewundernswürdigen Gebrauch zu machen.

Als Wild sich nun so künstlich zurückgezogen und seine vorhin geäußerte Absicht, seinen Freund eines Mordes teilhaftig zu machen, wegräsoniert hatte, meinte er, Hartfree hätte doch nicht recht, wenn er nicht auf Mittel sinnen wollte, sich in Freiheit zu setzen; und nachdem er alle Versuche, die jener billigen würde, zu machen versprochen hatte, nahm er für jetzt Abschied. Hartfree unterhielt sich nun noch eine Stunde mit seinen Kindern; dann begab er sich zur Ruhe, die er auch ungestört genoß, während unser Wild die ganze Nacht aufsaß und überlegte, wie er wohl seinen Freund am besten zugrunde richten könnte, ohne daß Hartfree selbst die Hand im Spiele hätte; auch zweifelte er gar nicht, daß ihm dies gelingen würde. Mit dem Resultate dieser Beratschlagungen werden wir unsere Leser zur gehörigen Zeit bekannt machen; für jetzt rufen uns Dinge von größerer Wichtigkeit ab.

Quelle:
-, S. 99-103.
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