Fünftes Kapitel
Unser Haus, wie's wurde

[42] »Wie wir unser Haus vorfanden«, das bildete, von etlichen Einschiebseln und ein paar Exkursen in die Zukunft abgesehen, den Inhalt des vorigen Kapitels. In diesem neuen Kapitel geh ich, freilich gelegentlich auch hier wieder Kommendes vorwegnehmend, zu einer Schilderung der Umgestaltungen über, die sich in verhältnismäßig kurzer Zeit in unserem Hause vollzogen. Daß es in so kurzer Zeit geschah, hatte vorwiegend in dem innerhalb vier oder sechs Wochen bevorstehenden Eintreffen meiner Mutter seinen Grund, bis wohin alles in guter Ordnung[42] sein sollte. Mein Vater, den dabei, neben einer kleinen Baupassion, auch wohl eine gewisse Courtoisie gegen seine trotz aller Kriegführung sehr geliebte Frau beseelen mochte, ging in Ausführung seines Tuns auf zwei Linien vor, von außen und innen, und stellte sich, was das »Außen« anging, vor allem den Abputz des ganzen Hauses, was das »Innen« anging, die Möblierung und Einrichtung zweier Räume: des für seine Frau bestimmten »Salons« und seines eigenen Wohnzimmers, zur Aufgabe.

Dies doppelte Vorgehen war von einem sehr verschiedenen Erfolge begleitet.

Was zunächst den Angriff von »Außen«, also die dem Abputz und Anstrich des Hauses geltende Neuerung betraf, so scheiterte diese total. Von der aus einem feineren Stilgefühl hervorgehenden Anschauung, daß unter Umständen etwas geradezu Häßliches einem an und für sich Hübscheren, aber durchaus Unpassenden immer noch vorzuziehen sein könne, wußte man damals im Publikum nicht viel, und so kam es, daß mein Vater, nachdem er sich mit einem uns schräg gegenüber wohnenden Haus- und Stubenmaler in Verbindung gesetzt hatte, mit ebendiesem einen himmelblauen Ölfarbenanstrich verabredete. Für den Maler war dies, bei der beträchtlichen Zahl von Quadratfußen, die mit dem teuren Anstrich zu bedecken waren, eine sehr lohnende Aufgabe, für das Haus selbst aber, dem diese Verschönerung galt, ging dadurch das Beste verloren, was es bis dahin gehabt hatte: sein grotesker Charakter.

Der Außenangriff also scheiterte.

Desto mehr dagegen, wenn auch freilich nicht in allen Stücken, glückte das Vorgehn im Innern, weil hier das meiste, was geschah, sich mehr oder weniger gefällig in den schlicht gegebenen Rahmen einfügte. Daß es so kam, war natürlich ein bloßer Zufall und hatte darin seinen Grund, daß das zur Einrichtung der genannten Zimmer zur Verfügung stehende Mobiliar vorwiegend alt oder doch nicht ganz neu war. Besonders das ganz alte, das dem Nachlasse meines, wie schon erwähnt, kurz zuvor verstorbenen Großvaters entstammte, paßte wundervoll und erzielte, wo es zur Verwendung kam, genau das, was ich[43] bei Zimmereinrichtungen bis diesen Tag am höchsten schätze: Das Anheimelnde und Gemütliche.

Da war zunächst das dreifenstrige Saalfenster in Front des Hauses, das bestimmt war, der »Salon« meiner Mutter zu werden. Das Schüttgelb seiner Vorexistenz war bald verschwunden, und ein dunkles Ultramarin, die Lieblingsfarbe meines Vaters, trat an seine Stelle, während an der langen, weißgetünchten Decke hin, und zwar von der Hand desselben Meisters, der draußen den Ölfarbenanstrich geleistet hatte, eine halb mythologische Darstellung entstand. Solche mythologisch anklingenden Deckenbilder haben meinen Vater, der eine mir unerklärliche Vorliebe dafür hatte (denn er war eigentlich schlecht bewandert in der Götterlehre), durchs Leben hin begleitet. Überall, wo er sich häuslich einrichtete, mußte das einfache Stern- oder Rosettenornament, das er vorfand, alsbald einer »höhern Darstellung« weichen, in der meistens ein an Leda-Bilder erinnernder, sich mächtig aufbäumender Schwan die Hauptrolle spielte. Mitunter (so auch hier) waren es mehrere Schwäne. Zu diesem Deckenbilde gesellte sich als berechtigtere Zimmerdekoration eine saubre Fensterausschmückung: in große Messingblechgriffe zurückgeschlagene Gardinen, vor deren einer ein Trittbrett mit Maroquinlehnstuhl stand, auf dem meine Mutter, eine Stickerei oder Häkelarbeit in der Hand, schon vormittags zu residieren pflegte. Der Blick, den sie von diesem Trittbrett aus hatte, war sehr gefällig. Unter den Zweigen einer unmittelbar vor dem Fenster stehenden Linde hinweg blickte sie, wenn sie von ihrer Arbeit aufsah, auf den jenseits der Straße gelegenen Kirchplatz mit seinen verschiedenen Baumstämmen und Sägeböcken hinüber, wo wir Kinder, wenns irgend ging, unsre Spiele spielten. Kam dann zwölf Uhr heran, so gab sie diesen Beobachtungsposten am Fenster auf, aber nur selten, um an dem Mittagessen teilzunehmen, sondern um sich in den Garten oder noch lieber in die stille Giebelstube des Hauses zurückzuziehn. Erst um die vierte Stunde kehrte sie wieder an ihren Lieblingsplatz zurück. Und nun begann für sie die schönste Zeit des Tages, die Zeit, wo Besuch kam und die Vorbereitungen zum Kaffee getroffen wurden. Es war das damals alles viel hübscher und malerischer als jetzt; Tassen und[44] Kuchenkörbe standen schon da, daneben eine kupferne hohe Kanne mit eingehängtem Beutel, und nur das heiße Wasser zum Aufbrühen fehlte noch. Und nun kam der Hauptmoment, der, wo die Mama die Klingel zog und gleich darauf ein merkwürdiger Bau hereingetragen wurde, dessengleichen ich seitdem nicht wieder gesehn. Es war ein ovaler, mit glühenden Kohlen gefüllter Eisenblechkasten, der, weil er sich als solcher schlecht präsentiert haben würde, wieder in einem etwas größeren, blitzblank geputzten Messingbehälter steckte, durch dessen zahllose Löcher hindurch man den eisernen Innenkasten glühen sah. Auf diesem etwas komplizierten Bau stand ein beinah kugelrunder Wasserkessel, aus dessen Tülle der Dampf kräuselnd aufstieg. Und nun, unter gefälligem Weiterplaudern, worin sie, wenn sie wollte, virtuos war, stieg meine Mama von ihrem Maroquinthron herab, um gleich danach jedem einzelnen Gaste die ihm zuständige Tasse zu reichen. Jetzt muß es Meißner Zwiebelmuster oder dem Ähnliches sein, damals aber bildeten die Tassen eine kleine Galerie von Miniaturbildern, auf denen in der Regel ein ans Knie der Venus sich anschmiegender Amor den Pfeil schärfte, meist aber schon den Bogen spannte, sicher das in Front eines Gebüsches stehende leichtbekleidete Paar mit seinem Liebespfeil zu treffen. Und dann wurde ich aufgefordert, die Kuchenkörbe herumzureichen, oft eine Tantalusqual für mich, wenn der lebhafte Gang der von den Damen geführten Unterhaltung über den alten Satz, »daß der Arbeiter seines Lohnes würdig sei«, hinwegsehen ließ.

All das ist mir im Plaudern wieder lebendig geworden, und in der Rückerinnerung daran habe ich zu meinem Leidwesen außer acht gelassen, daß ich in erster Reihe nicht von den Kaffeegesellschaften meiner Mama, sondern von der Saloneinrichtung erzählen wollte, die mein Vater damals in liebenswürdigem Eifer ins Werk zu setzen sich abmühte. Zurück also zu dieser meiner Schilderung. An der Längswand, den drei Fenstern gegenüber, stand ein Sofa mit dicht gestellten Stühlen, so dicht, wie sie nur in einem Tanzsaale zu stehen pflegen; das Sofa selbst aber – in einem abgeplatteten Barockstil gehalten, wenn überhaupt noch von Stil die Rede sein konnte – trug einen quittgelben Moiré-Überzug und war an Front und Rückenlehne[45] mit vielen Hunderten von kleinen Silbernägeln besetzt. Das Ganze zunächst schwerfällig und dabei prätentiös und ärmlich zugleich. Um vieles besser machte sich der an der Schmalseite des Zimmers aufgestellte Trumeau, dessen Bekrönung, weil die Höhe des Zimmers nicht ausgereicht hatte, zu größerem Teile beseitigt worden war. Aber auch in dieser fast bekrönungsbaren Verfassung war er immer noch das Prachtstück der ganzen, von uns selbst wenigstens vielbewunderten Einrichtung. Daß wir unsrerseits so hoch davon dachten, war bei aller nachträglichen Komik der Sache doch sehr verzeihlich. Alle diese langweiligen Gegenstände nämlich waren von uns nicht bloß kritiklos, in dem ehrlichen Glauben an ihre besondere Schönheit, mit nach Swinemünde herüber genommen worden, sondern durften auch nach damaliger Anschauung wirklich als etwas bemerkenswert Feines gelten. Denn es waren sogenannte »Schinkelsche« Möbel. Schinkel (Ruppiner Kind), in freundlichem Andenken an seine Vaterstadt, hatte der Tischlerfirma Möhring daselbst seine Muster und Vorbilder für Zimmereinrichtung zum Geschenk gemacht oder vielleicht auch nur zu besonderer Beachtung empfohlen, was im weiteren zur Folge hatte, daß jahrzehntelang das ganze offizielle Preußen aus der Werkstatt dieser sehr angesehenen Firma mit Mahagonimöbeln im Schinkelstil versehen wurde. Noch ganz vor kurzem, und zwar im Schlosse zu Quedlinburg, bin ich in einem mittelgroßen Zimmer, das Friedrich Wilhelm IV. bei seinen Besuchen daselbst mit Vorliebe zu bewohnen pflegte, solcher Schinkelschen Zimmereinrichtung wieder begegnet und schrak bei ihrem Anblicke fast zusammen, denn Trumeau, Sofa, Schränke, Stühle, alles sah genauso aus oder richtiger war nach Stil und Formen genau dasselbe wie das, was ich sechzig Jahre früher im Zimmer meiner Mutter gesehen und bewundert hatte. Freilich nur damals bewundert. Mir will es jetzt scheinen, daß Schinkel, dessen Größe trotz solcher Ausstellungen natürlich unangefochten bleibt, es seinerzeit nicht für nötig fand, an Herstellung dieser Dinge viel Arbeit und Phantasie zu setzen. Namentlich letztere verleugnet sich beinahe ganz.

So viel über den Salon meiner Mutter. Er konnte passieren (mehr freilich war ihm nicht zuzugestehen), während es mein[46] Vater, wenn auch sich selber unbewußt, bei Neueinrichtung seines eigenen kleinen Wohnzimmers ganz vorzüglich getroffen hatte. Hier war an Stelle des früheren Anstrichs alsbald eine braun und weiß gemusterte Tapete getreten, und der überall abgestoßene schwarze Ofen hatte einem völligen Neubau Platz gemacht. Dieser bestand aus graugrünen blanken Kacheln, über deren jede mindestens zwei, drei nach unten sich verdickende Tropfen roter Glasur flossen – also eigentlich ein Ornament, das in ein Schlachthaus gepaßt hätte. Trotz dieser äußersten Gewagtheit ließ sich, auf Farbenwirkung hin angesehn, doch von einer wirklichen Verschönerung sprechen. Eine ganz besondere Zierde des Zimmers aber waren seine vielen Bilder, meist in Pastell: Engelsköpfe, Musen und Horen im Tanz oder auch junge Mädchen, mit Tauben und Kaninchen spielend. Dazwischen hingen englische Stiche: die Quelle der Egeria, die Kaskaden von Tivoli und ähnliches, Buntdrucke, die meinem Gefühle nach dem meisten, was jetzt auf diesem Gebiete geleistet wird, erheblich überlegen waren. Zum mindesten wirkten sie vornehmer. Alt und einfach, aber gerade deshalb dem Trumeau samt Moiré-Sofa weit überlegen, waren denn auch ganz besonders die dem Zimmer einverleibten, meist aus der großväterlichen Erbschaft stammenden Möbel. An dem mittleren Fensterpfeiler, in einer Birkenmaserumrahmung, hing ein schmaler Spiegel, vor dem mein Vater seine Toilette zu machen pflegte. Für gewöhnlich bedeutete das nicht viel. Wenn aber Diner-Tag war, und das ereignete sich winters allwöchentlich wenigstens einmal, so stand er hier unter Vornahme der mannigfachsten Prozeduren oft eine halbe Stunde und länger. Das Anlegen eines vielgefalteten Jabots mit einem weißen Halstuch darüber, durch das dann eine Amethystnadel gesteckt wurde, bildete jedesmal den Schluß der Toilette, dem mit gleicher Regelmäßigkeit eine minder gefällige Manipulation vorausging. Er trug nämlich eine sogenannte »Tour«, die, wenn er sich für eine Gesellschaft zurechtmachte, jedesmal abgelöst, dann sorglich instand gesetzt und mit einer Gummilösung neu aufgeklebt wurde. Der Ablösungsprozeß war immer etwas ziemlich Schmerzhaftes, von einer komischen Grimasse Begleitetes, weshalb er es nicht gern unterließ, einen seiner Monologe daran[47] anzuknüpfen. »Eigentlich ist es Unsinn. Die meisten haben einen ganz kahlen Kopf und finden sich drin. Nur ich, warum bäume ich mich unter Qualen dagegen auf? Es ist ein Opfer, das ich der Gesellschaft bringe.« Niemand aber war schließlich bereiter dazu als er, denn er freute sich auf jede Gesellschaft.

In diesen Gesellschaften, auf deren Schilderung ich in einem anderen Kapitel zurückkomme, war er sehr beliebt, was mit seiner großen und liebenswürdigen Unterhaltungsgabe, ganz besonders aber mit einigen kleinen Sonderbarkeiten zusammenhing, die diese Unterhaltungsgabe begleiteten. Zu diesen Sonderbarkeiten zählte neben anderem auch eine ihm eigentümliche Vortragsweise, die bei Zitaten oder Namensnennungen immer höchst pathetisch war. Er sagte nicht gern »auf Erden«, sondern bevorzugte die Wendung »auf dieser sublunarischen Welt«, und wenn er das Wort »sort«, zum Beispiel in seinem Lieblingssatze: »Der und der wird sein sort machen«, betonte, so hätten ihn drei Franzosen um die Aussprache des »o« beneiden können. Auf gleicher Höhe, wenn nicht höher, stand sein »la mort sans phrase« oder wohl gar »la garde meurt et ne se rend pas«, woraus man übrigens nicht schließen wolle, daß dies, sosehr er an allem Französischen hing, aus Gallomanie geschehen sei. Was ihn dazu bestimmte, war lediglich ein Klangbedürfnis, und jede Sprache, die dazu mithalf, war ihm gleich willkommen. Es war eine Lust, ihm zuzuhören, wenn er beispielsweise den Titel eines damals erschienenen Romans: »Gustav Wasa oder das Blutbad zu Stockholm« aussprach, oder wenn er, sobald von Schill die Rede war, hinzusetzte: »Schill, der in den Straßen von Stralsund fiel.« Alles Alliterierende und Spondäische wurde von ihm bevorzugt. Er wiegte sich darauf. Am größten aber war er wahrscheinlich bei Nennung ihm unbekannter und deshalb falsch von ihm ausgesprochener Namen, weil er sich diese, durch Regeln und Korrektheit ganz uneingeengt, ganz nach seinem persönlichen Bedürfnis zurechtlegen konnte. Gerade damals (1830) war in den Nachrichten aus England viel von einem Marquis von Londonderry (Bruder des früheren Ministers Castlereagh) die Rede, welcher Name, weil er sich einfach aus London und Derry zusammensetzt, bei richtiger Aussprache nur ziemlich mäßig ins Ohr fällt; mein[48] Vater aber, den Namen als eine große Einheit fassend, legte, statt ihm seine zuständigen zwei Akzente zu geben, einen einzigen mächtigen Akzent auf das »o« der drittletzten Silbe und erzeugte dadurch eine vollkommene Donnerwirkung. Natürlich erheiterte das die Swinemünder, die mit England und englischer Sprache sehr wohl Bescheid wußten.

Und nun wieder zurück in das Wohnzimmer meines Vaters und zu seiner Einrichtung.

An der Wand, rechts neben dem Spiegelpfeiler, stand der ebenfalls aus Birkenmaser gefertigte Schreibsekretär, dessen mit grünem Fries überzogene Klappe, wenn herabgelassen, ihm zugleich als Schreibepult diente. Die verbürgteste Eigenschaft derselben war aber die, daß sie, jedem Drucke nachgebend, beständig knarrte und quietschte. Mein Vater indessen ließ sich dadurch nicht stören und führte von hier aus seine gesamte Korrespondenz. Links neben ihm lagen die zu beantwortenden Briefe, denen eine Papierschere von ungewöhnlichem Gewicht als eine Art Briefbeschwerer diente. Nicht jeden Tag war Schreibetag, war dieser aber da, so wurde Nummer für Nummer vorgenommen, langsam und mit einer gewissen Künstlerfreude, denn er schrieb eine sehr hübsche Handschrift. Waren es Geldbriefe, so steigerte sich diese Freude noch sehr erheblich. Er hatte dann nicht bloß die Vorstellung von der Wichtigkeit des Akts, sondern des weiteren auch eine gewisse moralische Genugtuung, diesen Brief überhaupt noch abschicken und sich als ein Mann von Mitteln und »honnêteté« legitimieren zu können. Am deutlichsten trat diese Genugtuung hervor, wenn er, nach Erledigung der eigentlichen Schreiberei, bis zur Kuvertierung und Siegelung des Briefes gekommen war. Er hatte mehrere Petschafte für den Alltagsverkehr, jeder Geldbrief aber wurde mit einem besonders gut geschnittenen Petschaft gesiegelt, das er noch aus der Ruppiner Löwenapotheke mit in seine Swinemünder Adlerapotheke, so daß es eigentlich nicht mehr paßte, herübergenommen hatte. Das Reiben des Siegellacks, um die schwarzen Stellen auszutilgen, war eine Kunst, der er viel Fleiß widmete, und wenn dann die fünf Siegel mit dem kleinen Löwen darauf fertig waren, sah er sich das Ganze wiederholentlich an und äußerte seine Befriedigung. Er saß[49] gern an diesem seinem Sekretär und hing mehr oder weniger an jedem Kasten und Schubfach desselben, ein besonders intimes Verhältnis aber unterhielt er zu einem hinter einem kleinen Säulen-Vortempel verborgenen Geheimfach, drin er, wenn ihm die Verhältnisse dies gerade gestatteten, sein Geld aufbewahrte. Lag es indessen ungünstiger, mit anderen Worten, war der Kasten leer, so hörte derselbe nicht auf, ein Gegenstand seiner beinahe liebkosenden Betrachtungen zu sein. Er entfernte dann den Vortempel, und in das Nichts, das sich dahinter auftat, mit einem gewissen humoristischen Ernst hineinlugend, hielt er eine seiner Ansprachen. Ich war oft dabei zugegen. »Sieh, mein Sohn, ich kann in diese dunkle Leere nicht ohne Bewegung blicken. Erst vor ein paar Tagen hab ich mir zusammengerechnet, wieviel da wohl schon gelegen hat, und es summte sich hoch auf und hatte was Tröstliches für mich.« All dies, während er drüber lachte, war doch auch wieder ganz ernsthaft gemeint; er richtete sich wirklich an der Vorstellung auf, was da alles schon mal gelegen hatte. Das Gascognische in ihm schlug immer wieder durch.

Der Sekretär mit der quietschenden Klappe war, um es noch einmal zu sagen, ein Lieblingsplatz meines Vaters, aber der bevorzugteste war doch das große kissenreiche Schlafsofa, das zwischen dem Ofen mit den roten Glasurtropfen und der alten Gehäuse-Wanduhr stand. Diese Wanduhr ist jetzt in meinem Besitz. Mein Großvater und mein Vater sind bei ihrem Schlage gestorben, und ich will dasselbe tun. Über dem mit buntem Wollstoff überzogenen Sofa aber hing das noch nicht erwähnte Prachtstück aus der Erbschaft meines Großvaters, ein nach dem bekannten Bilde des Malers Cunningham gefertigter großer Kupferstich, der die Unterschrift führte: Frédéric le Grand retournant à Sanssouci après les manceuvres de Potsdam, accompagné de ses généraux. Wie oft habe ich vor diesem Bilde gestanden und dem alten Zieten unter seiner Husarenmütze ins Auge gesehen, vielleicht meinen Lieblingshelden in ihm vorahnend. Unter diesem Frédéric-le-Grand-Bilde aber und eingebettet in die Seegraskissen hielt mein Vater, der zu seinen vielen Prachteigenschaften auch die eines immer tüchtigen Schläfers hatte, seine Nachmittagsruhe, bei der er die Zeit nie ängstlich[50] maß und sich oft erst erhob, wenn die Dunkelstunde schon da war. »Papa schläft wieder bis in die Nacht hinein.« Ich wurde dann, wenn gute Tage, das heißt Friedenszeiten waren, abgeschickt, ihn zu wecken, was ich immer gerne tat, weil er dabei nicht bloß von besonders guter Laune, sondern sogar von einer ihm sonst gar nicht eignen Zärtlichkeit gegen mich war. Ich mußte mich dann zu ihm setzen, und er plauderte mit mir, weit über meinen Kopf weg, über allerhand merkwürdige Sachen, die mich, vielleicht gerade deshalb, entzückten. Ich komme weiterhin auf diese wunderlichen und mir für mein Leben verbliebenen Gespräche zurück.

Ja, das waren glückliche Stunden. Aber es kamen auch andere. Dann wurde ich nicht hineingeschickt, um ihn zu wecken, sondern ging aus eigenem Antriebe, um nach ihm zu sehen. Er lag dann auch ausgestreckt auf dem Sofa, aber auf seinen Arm gestützt, und sah durch das Gezweig eines vor dem Fenster stehenden schönen Nußbaumes in das über den Nachbarhäusern liegende Abendrot. Ein paar Fliegen summten um ihn her, sonst war alles still, vorausgesetzt, daß nicht gerade der Kohlenprovisor an seinem Mörser stand und stampfte. Wenn ich dann an das Sofa herantrat und seine Hand streichelte, sah ich, daß er geweint hatte. Dann wußte ich, daß wieder eine »große Szene« gewesen war, immer infolge von phantastischen Rechnereien und geschäftlichen Unglaublichkeiten, um derentwillen man ihm doch nie böse sein konnte. Denn er wußte das alles und gab seine Schwächen mit dem ihm eignen Freimut zu. Wenigstens später, wenn wir über alte Zeiten mit ihm redeten. Aber damals war das anders, und ich armes Kind stand, an der Tischdecke zupfend, verlegen neben ihm und sah tief erschüttert auf den großen, starken Mann, der seiner Bewegung nicht Herr werden konnte. Manches war Bitterkeit, noch mehr war Selbstanklage. Denn bis zu seiner letzten Lebensstunde verharrte er in Liebe und Verehrung zu der Frau, die unglücklich zu machen sein Schicksal war.[51]

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 14, München 1959–1975, S. 42-52.
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