Julin

[172] Es rauscht der Wind, es rinnt die Welle,

Beflügelt schwebt das Schiff dahin;

An jenes Kreidefelsens Schwelle

Dort, sagt der Schiffer, lag Julin;


Julin, die hohe Stadt am Sunde,

Die still die Meerflut überschwoll;

Wie klingt die fabelhafte Kunde

Mir heut ans Herz erinnrungsvoll!


Ich denk' an meiner Kindheit Tage,

Da mir, von Märchenlust beseelt,

Die Schwester jene Wundersage

Des Abends vor der Tür erzählt.[172]


Noch steht's mir deutlich im Gemüte:

Wir saßen auf der Bank von Stein,

Am Nachbarhaus die Linde blühte,

Am Himmel quoll des Mondes Schein.


Die schlanken Zackengiebel hoben

So ernst sich, wo der Schatten fiel,

Und dann und wann erklang von oben

Von Sankt Marien das Glockenspiel.


Dann ging's hinein zum Nachtgebete,

Und linder Schlaf umfing mich drauf;

Ich baute die versunknen Städte

Im Traume prächtig wieder auf.


O Knabenträume rein und helle,

O Jugendlust, wo gingt ihr hin! –

Es rauscht der Wind, es rinnt die Welle,

Wo sind Vineta und Julin?

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 172-173.
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