Mittagszauber

[193] Im Garten wandelt hohe Mittagszeit,

Der Rasen glänzt, die Wipfel schatten breit;

Von oben sieht, getaucht in Sonnenschein

Und leuchtend Blau, der alte Dom herein.


Am Birnbaum sitzt mein Töchterchen im Gras;

Die Märchen liest sie, die als Kind ich las;

Ihr Antlitz glüht, es ziehn durch ihren Sinn

Schneewittchen, Däumling, Schlangenkönigin.[193]


Kein Laut von außen stört; 's ist Feiertag –

Nur dann und wann vom Turm ein Glockenschlag!

Nur dann und wann der mattgedämpfte Schall

Im hohen Gras von eines Apfels Fall!


Da kommt auf mich ein Dämmern wunderbar;

Gleichwie im Traum verschmilzt, was ist und war:

Die Seele löst sich und verliert sich weit

Ins Märchenreich der eignen Kinderzeit.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 193-194.
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