Um Mitternacht

[192] Im Saal gedankenvoll

Saß ich bei Lampenschein;

Durchs offne Fenster quoll

Die Sommernacht herein.


Dein Bild, von treuer Hand

Geschmückt mit frischem Kranz,

Sah von der dunkeln Wand

Mich an im Dämmerglanz.[192]


Da, auf der Sehnsucht Pfad

Vertiefte sich mein Sinn,

Und himmlisch leuchtend trat

Dein Wesen vor mich hin;


Ach, wie du lilienrein

Nie nach dem deinen frugst

Und lächelnd selbst die Pein

Wie eine Heil'ge trugst.


Und überm Abgrund dann,

Dem düstern, Tod und Grab,

Hing mein Gedank' und sann

In seine Tief' hinab.


Werd' ich dich wiedersehn?

Kann je, was Liebe hier

Erwarb, verlorengehn?

Und weißt du noch von mir?


O gib mir, hast du Macht,

Ein Zeichen noch so stumm! –

Da schlug es Mitternacht,

Und zaudernd blickt' ich um.


Ein süßes Duften flog

Vom Kranz, der zitternd hing,

Und um die Lampe zog

Ein weißer Schmetterling. –

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 192-193.
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