Traumleben

[177] O hast du niemals selbstvergessen

Auf dürrem Moos und Farrenkraut

Im Wald am Wassersturz gesessen

Und schweigend in die Flut geschaut?


Du sahst die Welle nahn und schäumen,

Du sahst sie schimmernd weiterziehn,

Und dich befing ein waches Träumen,

In dem dir doch kein Bild erschien.


Und Stunden kamen, Stunden gingen,

Doch du vernahmst nicht ihren Schritt,

Du warst verloren in den Dingen

Und webtest, walltest, rauschtest mit.


Ja, ganz als ob euch nichts mehr schiede,

Empfand sich deine Seele nur

Als einen Laut noch in dem Liede

Der allumfangenden Natur;[177]


Da war kein Draußen mehr, kein Drinnen,

Du schwebtest, frei vom Bann der Zeit,

Ausruhend mit gelösten Sinnen

Im Schoße der Unendlichkeit.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 177-178.
Lizenz:
Kategorien: