Böse Träume

[206] 1850.


Ich ließ mein Rößlein grasen

Im Wald an Baches Rand

Und lag auf kühlem Rasen

Und dacht' ans Vaterland.

Und bei des Baches Rinnen

Entschlief ich unterm Baum;

Da wob vor meinen Sinnen

Ein dreifach Bild der Traum.


Ich sah ein Volk von Immen,

Das ohne Weisel fuhr

Und mit verworrnen Stimmen

Hinschwärmte durch die Flur.

Nach allen Winden zogen

Sie ziellos kreuz und quer

Und hatten sich bald verflogen

Und fanden sich nimmermehr.


Ich sah ein Bündel Pfeile

In blöder Knaben Hand,

Die trieben kurze Weile

Und lösten Ring und Band.

Sie spielten mit den Rohren

Uneins und ungeschickt;

Die Hälfte ging verloren,

Die Hälfte ward zerknickt.


Ich sah, wie ein Karfunkel

Verschmäht am Kreuzweg lag;

Von Staube war er dunkel,

Zerspellt von Stoß und Schlag.[206]

Die Krone der Welt zu schmücken

Geschaffen deucht' er mir;

Nun haschte nach den Stücken

Der fremden Raben Gier.


Da wacht' ich auf beklommen

Und stieg zu Roß in Hast;

Die Sonne war verglommen,

Das Spätrot war verblaßt,

Im kühlen Abendschauer

Von dannen ritt ich stumm.

Mein Herz verging in Trauer

Und wußte wohl, warum.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 206-207.
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