Helle Nächte

[403] Schweifst du noch immer dort oben,

Du von den Töchtern des Himmels

Mir die freundlichste, Abendröte?

Oder naht schon von ferne

Tagverkündend

Die prangende Schwester,

Die mit den Rosenfingern

Die Rosse des Helios anschirrt?[403]

Nicht weiß ich's zu sagen;

Aber droben zwischen den Wolken

Seh' ich die weißen Ströme des Lichts.


So ist's auf der Höhe des Lebens

Dem sinnenden Manne,

Der mit ruhigem Auge

In die flutende Zeit hinausschaut

Und Vergangenes und Künft'ges

Still im Busen erwägt.

Allwärts schaut er

Unendliche Wandlung,

Aber trostlos lastendes Dunkel

Siehet er nicht;

Denn es reicht das Geschlecht dem Geschlechte

Segnend die Hand,

Von einem zum andern wandelt leise

Das heilige Feuer der Vesta,

Die erquickende Gabe des Lichts,

Und der kommende Tag

Zündet freudig die Fackel

An dem verlöschenden an.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 403-404.
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