Lied des Mädchens

[231] Laß schlafen mich und träumen,

Was hab' ich zu versäumen

In dieser Einsamkeit!

Der Reif bedeckt den Garten,

Mein Dasein ist ein Warten

Auf Liebe nur und Lenzeszeit.


Es kommt im Frühlingsglanze

Für jede kleine Pflanze

Einmal der Blütentag.

So wird der Tag auch kommen,

Da diesem Frost entnommen

Mein Herz in Wonnen blühen mag.[231]


Doch bis mir das gegeben,

Deucht mir nur halb mein Leben

Und kalt wie Winters Wehn;

Trüb schauert's in den Bäumen -

O laß mich schlafen, träumen,

Bis Liebe mich heißt auferstehn!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 231-232.
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