Die Sonnenblume

[230] O Rosen, die mit Ruhme

Ihr prangt in Duft und Licht,

Ich bin die Sonnenblume,

Und ich beneid' euch nicht.


Des Falters flatternd Kosen,

Die Lieder im Gesträuch,

Der Menschen Lob, ihr Rosen,

Wie gerne gönn' ich's euch![230]


Mir schafft es volle G'nüge,

Vom Himmelstau getränkt

In meines Liebsten Züge

Zu schauen still versenkt.


Zum Sonnenjüngling richte

Das Haupt ich früh und spät

Und nähre mich vom Lichte,

Das sein Gelock umweht.


Mein Auge bleibt dem Hohen

Auch dann noch zugekehrt,

Wenn er mit heil'gen Lohen

Zuletzt mich selbst verzehrt.


O sprecht, wie ließ' erwerben

Sich köstlicher Geschick,

Als so dahinzusterben

Sanft an des Lieblings Blick!


Drum blüht in eurem Ruhme,

Ihr Rosen wonniglich!

Ich bin die Sonnenblume,

Und selig bin auch ich.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 230-231.
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