Melusine

[245] Es wohnt das Mädchen wunderhold

Mitten im Walde;

Was da webet und grünt und blüht,

Gehorcht ihr balde.


Und tritt sie früh aus ihrer Tür

Auf leichten Füßen,

Flattern die Vögel um sie her,

Die blauen Blumen grüßen.


Das fleckige Rehlein hält ihr still,

Lässet sich streicheln mit Nicken;

Sie hat gezähmt den jungen Wolf

Mit ihren holdseligen Blicken.


Singend über das tauige Moos

Schreitet die Holde,

Die Morgensonne wirft ihr um

Den Mantel von Golde.


O wär' ich dann der klare Brunn,

Den sie zum Spiegel wählet!

Sie lacht hinein mit rotem Mund,

Wenn ihr Haar sie strählet.


Sie lacht hinein und singt dazu:

»O lustig Schweifen!

Mein Sinn ist wie der Wind, Wind, Wind,

Wer kann ihn greifen![245]


Und wie ein Schrein so ist mein Herz,

Nur fester, feiner.

Wo liegt der Schlüssel? Ich weiß es wohl,

Doch find't ihn keiner.«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 245-246.
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