Am Bergsee

[277] Am Bergsee, wo die Wipfel steigen,

Bis in die Nacht hab' ich gelauscht,

Da hat der Wald mit seinen Zweigen

Die alte Zeit mir wach gerauscht:


Die Zeit, die nach zu kurzem Schimmer

Wie eine Sonn' hinabgeglüht,

Von der ein Nachglanz mir noch immer

Wie Spätrot in der Seele blüht;


Die Zeit, da ich mit dir geschritten,

Geliebtes Kind, im tiefen Hag,

Da ich in hoher Buchen Mitten

Zu deinen Füßen träumend lag;[277]


Da du dein Aug' in meines senktest

Und lächelnd bald und weinend bald

Mir deine junge Seele schenktest,

Und niemand wußt' es als der Wald;


Da deine Hände mich gesegnet,

Und deine Lippen fromm gefeit

Den meinen sanft im Kuß begegnet

Und sie zu reinem Lied geweiht.


O Zeit der Liebe, Zeit der Lieder,

Der stillen, grünen Waldeslust,

Wie zog von dir ein Odem wieder

Sehnsüchtig heut durch meine Brust!


Und du, die ewig mir erlesen

In meines Herzens Tiefen ruht,

Wie grüßte still mich all dein Wesen

Aus Laub und Dämmrung, Luft und Flut!


Der nächtlich tiefe Himmel blaute,

Auf ging der Mond im dunklen See:

Mir aber war's, dein Auge schaute

Zu mir empor in stillem Weh.


Und da hinab die Bergeslehnen

Der Wind den feuchten Wald durchstrich,

Da fiel der Tau wie kühle Tränen,

Wie deine Tränen über mich.


Da hielt ich's nicht. Mit wildem Klopfen

Unbändig quoll mein Herz empor,

Und heiß vom Auge fühlt' ich's tropfen,

Wie damals, da ich dich verlor.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 277-278.
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