Einem Freunde

[278] O wenn dahin die erste Jugend,

Die schuldlos noch, noch ohne Tugend

Den Tag verschwärmt im Sonnenglanz,

Die unter ahnungsvollen Schauern

Die Mondnacht heut verwacht in grundlos süßem Trauern[278]

Und morgen sie durchstürmt im Tanz;

Wenn dieser holde Rausch verflogen,

Der an Erkenntnis arm, verschwendrisch im Gefühl

In unermeßlichem Gewühl

Von Well' in Welle dich gezogen:

Wie weht so wunderbar dich dann

Des Lebens frischer Morgenschauder an!


Ach, von den Dingen, drin du webtest,

Siehst du dich plötzlich losgetrennt;

Du fühlst, daß du in goldnen Träumen lebtest,

Und suchest sehnsuchtsvoll dein wahres Element.

Nicht länger kannst du dich vergeuden,

Des großen Alls bewußtlos kleiner Teil;

Es strebt dein Geist nach eignen Freuden,

Nach eignen Schmerzen, eignem Heil.


Und sieh, in nimmer müdem Ringen

Erbaust du deine stille Welt;

Die Seele strebt mit jungen Schwingen

Aus Zweifeln kühn zum Himmelszelt.

Die milde Wärme, die dein Herz ertauschte

Für hast'ge Glut, sie bricht dir standhaft Bahn,

Und die Natur, die dich berauschte,

Sieht dich mit klaren Augen an.


Ach, wenn sich's dann wie Traumeshülle,

Wie Nebel dir vom Blicke streift,

Und himmlischer Gedanken Fülle

In deinem Haupte wachsend reift;

Wenn aus verworrner Vorzeit wildem Handeln,

Aus jeder Tat, die heute ward,

Wie aus des Jahres heil'gem Wandeln

Ein ewig Walten dir sich offenbart;

Wenn jene Sterne, die dort oben kreisen,

Der Weltgeschlechter Gang, der kleinste Halm am Bach,

Dein eigen Herz in wundervollen Weisen

Dir eines künden tausendfach:

Dann will dein Busen weit sich dehnen,

Dich faßt ein unaussprechlich Sehnen,[279]

Des innern Schatzes los zu sein;

Umsonst, es fehlt die Hand, um ihn zu heben.

Dein Bestes kannst du niemand geben,

Und wie du suchst - du bist allein.


Dann halte fest, dann laß aus deinem Herzen

Den Glauben dir hinweg nicht scherzen,

Ertrage still die Wucht der Einsamkeit;

Wie toll dich Widerspruch umschwirre,

Harr' aus in Hoffnung und in Leid

Und werd am Gott in deiner Zeit

Und werde an dir selbst nicht irre.

Getrost! Es kommt des Bangens Endnis,

Wo eine Seele dir verwandt entgegentönt

Und Lieb' in seligem Verständnis

Dich mit dem Leben hold versöhnt.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 278-280.
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