Am Meere

[267] O leiser Wogenschlag, eintönig Lied,

Dazu die Harfe rührt der müde Wind,

Wenn Well' auf Welle blinkend strandwärts zieht

Und dann auf goldnem Ufersand verrinnt,[267]

Wie oft in märchenhaftes Traumgebiet

Verlockte mich dein Wohllaut schon als Kind!

Versunken stand ich dann und lauschte tief,

Bis mich die Nacht vom lieben Strande rief.


Und alles, was Geheimnisvolles je

Mir kund ward, dämmert' auf in meinen Sinnen:

Durchsicht'ge Schlösser auf dem Grund der See

Mit Silberpfeilern und Korallenzinnen;

Meerkönig saß mit seinem Bart von Schnee

Auf buntem Muschelstuhl und harfte drinnen,

Und Nixen spannen zu dem süßen Schall

Von goldnen Spindeln Fäden von Kristall.


Doch als ich älter ward, da lauscht' ich nicht

Auf weiße Nixen mehr noch auf Sirenen;

Mein eigen Leben blühte zum Gedicht,

Und wieder trug zum Strand ich all mein Sehnen.

Dem Seewind bot ich mein erhitzt Gesicht,

Er kühlte mich und küßte mir die Tränen

Vom Auge fort - ich aber sprang ins Boot

Und steuert' heiß hinaus ins Abendrot.


Und überm Wasser sang ich - mild und wild,

Reimlose Weisen, wie des Herzens Drang

Sie eingibt, wenn's bis zum Zerspringen schwillt,

Nun jauchzend, nun in Sehnsucht todesbang;

Heiß wie die Träne, die bewußtlos quillt,

So flutet' aus der Seele mein Gesang,

Der jungen Liebe kunstlos rauhes Lied,

Das erste, das die Muse mir beschied.


Und wenn des Mondes klares Auge dann

Im Blauen aufging, und auf weiter Flut

Sein kühles Silber irren Scheines rann,

Da ward mir still und friedensvoll zumut.

Das Ruder zog ich ein und saß und sann

Von goldner Zukunft. O, es sinnt sich gut

Im Kahne - nichts umher in Näh' und Ferne

Als Lieb' und Meer und über uns die Sterne.[268]


Einst kehrt' ich heim - O, wie ich da sie fand,

Mein lockig Kind, das spät zum Strand gegangen,

Und wie ich schwieg, und sie mich doch verstand

Und selig glüht' und doch verstummt' in Bangen,

Wie meine Lippe brannt' auf ihrer Hand

Gleich Flamm' auf Schnee und dann auf ihren Wangen,

Und dann in wonn'gen Zähren all ihr Stolz,

In langen Küssen all ihr Wesen schmolz:


Wer sänge das! - Ein Jüngrer könnt' es kaum,

Von ros'ger Schönheit zum Gesang geweiht,

Ein Jüngrer, dem der Seele duft'gen Flaum

Noch nie versehrt des Schicksals Bitterkeit.

Mir aber liegst du fern schon wie ein Traum,

Du meines Herzens süße Veilchenzeit,

Du goldne Dämmrung, ach, mit allen Wonnen

Verweht im Wind, wie Flut und Schaum zerronnen. -

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 267-269.
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