16.

[48] Es stand in meinem Hage

Ein Eichbaum kronenlos;

Von jähem Wetterschlage

Zerspalten war sein Schoß.


Ihn schmückten keine Blätter,

Kein Vöglein kam ihm nah,

Er stand in Sonn' und Wetter

Ein dunkler Riese da.


Und sah ich fern ihn ragen,

Geschah mir's wie ein Leid;

Ich schaut' in ihm zerschlagen

Die deutsche Herrlichkeit.


Doch als mit Braus gefahren

Der Frühling heuer kam,

Mocht' ich am Baum gewahren

Ein Zeichen wundersam.


Von neuer Kraft durchquollen

Urplötzlich trieb der Schaft,

Die knorr'gen Zweige schwollen

Getränkt von üppigem Saft;[48]


Hervor brach unverdrossen

In tausend Knospen bald,

In tausend lichten Sprossen

Des Lebens Urgewalt.


Und wo noch jüngst vom Stamme

So kahl die Äste sahn,

Schien eine grüne Flamme

Zu spielen himmelan.


Und wie der Wind die Zungen

Der Flamme rauschend bog,

Und wie die Vögel sungen

Im dichten Laubgewog,


Da kam auf mich hernieder

Ein frischer Hoffnungstraum:

Getrost! So grünt auch wieder

Dereinst des Reiches Baum.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 48-49.
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