Der Äther

[14] Hoher Äther, hoher Äther,

Gestern sonnig, heut mit sanften

Schatten meine Schläfe kühlend,

O wie preis' ich deine Wunder!

Wie ein Vater ruhig-heiter

Trägst am Busen du den Erdkreis,

Und er lächelt dir und läßt dich

Seines Wesens Duft und Blüte,

Seine ganze Schönheit saugen;

Denn die hohen Berge atmen

Zu dir auf, die Wälder streun dir

Rauschend ihren besten Weihrauch,

Tal und Fluß und Quelle dampfen

Dir ihr täglich Morgenopfer,

Und die Menschen – gleich als zög' es

Ewig sie zu deiner Stille –

Senden dir zu jeder Stunde

Ihrer Brust lebend'gen Odem,

Ihre Lieder, ihre Seufzer.

Und du nimmst die reichen Gaben

Willig hin und sammelst alle;

Aber nicht für dich – in Wolken

Deine Stirn verhüllend wandelst

Du den Schatz in lautern Segen,

Und in lichten Feuerflammen

Und in Tropfen und in Güssen[14]

Gibst du wonniglich befruchtend

Ihn der durst'gen Erde wieder.


Hoher Äther, hoher Äther,

Wie der Geist des Dichters bist du,

Der, auf Flügeln überm bunten

Farbenspiel des Lebens schwebend,

Seine Schönheit selig einsaugt.

Und dann wogt's in ihm, dann wölkt sich's

Wunderbar, er kann die Fülle

Seiner Schätze nimmer halten,

Und wie du in Blitz und Regen

Steigt er nieder im Gesang.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 14-15.
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