Herbstnacht

[12] Ich schreit' hinan die Waldesbahn

In Finsternis und Schweigen,

Da kommt ein Sausen dumpf heran,

Da rührt sich's in den Zweigen.[12]

Der Geist der Nacht ist aufgewacht,

Er singt in dunklen Zungen;

Hei, wie so wild das braust und schwillt

Von Berg zu Berg geschwungen!


Dahin, daher, wie Wogen im Meer,

Wiegen die Wipfel und schwanken,

Schon rieselt das Laub herab in den Staub,

Schon brechen Äst' und Ranken;

Der Eiche First erseufzt und birst,

Die Fichte kracht vom Hange,

Der Waldbach zischt, verkehrt in Gischt,

Wie eine bäumende Schlange.


Im Busch verirrt die Eule schwirrt,

Die Augen rot ihr funkeln,

Der Damhirsch setzt, vom Sturm gehetzt,

Quer über den Steig im Dunkeln.

Das kreischt und ruft aus Fels und Kluft!

Das ist ein Flattern und Rasen!

Dazwischen schallt aus hoher Luft

Des wilden Jägers Blasen.


Laß schallen sein Horn, laß sieden den Born!

Laß Busch und Wipfel brausen!

Laß krachen die Tann' in des Windes Zorn!

Mir soll darob nicht grausen.

Ich weiß einen Bann, der zwingen kann

Den Nachtgeist, wie er wüte:

Von dir ein Lied, Geliebte, zieht

Mir wonnig durchs Gemüte.


Beim Lampenschein jetzt harrst du mein

Im warmen Erkersaale,

Aus rankendem Grün rings Blumen glühn,

Von Düften qualmt die Schale;

Du horchst empor mit leisem Ohr:

»So war's der Nachtsturm wieder?«

Entfesselt rollt der Locken Gold

Dir über die Stirn hernieder.[13]


Gott grüß' dich, Kind! Ich schreite geschwind,

Wie der Pilger zum tröstenden Bilde.

Deine Hand so weiß, wie wird sie mit Fleiß

Das Haar mir schlichten, das wilde!

Wie wird dein Mund bis zum Herzensgrund

Mit Küssen den Frost mir zertauen!

O selige Rast! – Drum weiter in Hast

Durch die Nacht, durch den Sturm, durch das Grauen!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 12-14.
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