[282] Elegie.
Täglich Gestöber und Sturm und wiederum Sturm und Gestöber!
Ewig bewölkt, bleischwer lastet der Himmel herab;[282]
Kniehoch liegen die Gassen verschneit, und es ächzt, nur mühsam
Durchs Pfadlose die Bahn wühlend, das schwere Gespann.
Kaum noch dem leichteren Schlitten gelingt die gefährliche Reise,
Oft einsinkend im Schnee strauchelt das klingelnde Roß.
Und so sitz' ich zu Hause gebannt; schon dunkelt das Zwielicht
Über die Stadt, und umsonst strebt mir ins Freie der Sinn.
Lodert denn auf im Kamin, ihr tröstlichen Flammen, und scheuche,
Wärmender Becher, den Druck trüber Gedanken mir fort!
Euch auch such' ich hervor aus dem Schrein, ihr verwitternden Blätter,
Die ich dereinst im Genuß goldener Tage beschrieb,
Als ich, ein Wanderer, noch mit dem trunkenen Auge der Jugend
An den Gestaden umher südlicher Meere geschweift.
Seltsam blickt ihr mich an im Geflacker des nordischen Herdes,
Fremd fast, aber ihr habt bald mir die Seele gelöst,
Und im belebenden Hauch der Erinnerung schwebt die befreite
Wie von Flügeln des Schwans leise getragen hinaus.
Sieh, schon sinkt das Gewölk, durch die flatternden Schleier ergießt sich
Goldener Glanz, weithin dehnt sich im Grunde die Flut,
Und im Kreise verstreut, umspült von schmeichelnder Woge,
Tauchen ins leuchtende Blau sonnige Gipfel empor.
Seid mir gegrüßt! Wohl kenn' ich euch noch, ihr seligen Inseln,
Die des Ägäischen Meers purpurner Gürtel umschlingt:
Naxos' Rebengebürg' und des taubenumflatterten Andros
Winkende Höhn, von der Nacht schwarzer Zypressen gekühlt,[283]
Und in Blüten verhüllt Parichias schwebende Gassen,
Die vielsäulig vom Meer über den Felsen sich ziehn.
Zaubrische Stadt! Wohl ruhn sie verwaist, die gefeierten Schluchten,
Wo zu göttlichem Reiz einst sich der Marmor beseelt;
Aber es erbte bis heut sich in dir unsterblicher Anmut
Abglanz fort und bezwingt wonnig dem Pilger das Herz.
Ach, ich erfuhr's, und das schmerzliche Glück, das launisch dieselbe
Stunde mir gab und entriß, wieder berauscht es mich heut.
Sieh, dort wandeln sie hin, mit dem Krug auf dem Haupte, die Mädchen,
Leicht im Sandalengeschnür schwebt der beflügelte Fuß;
Hier welch reine Gestalt, welch Haar! Schon bist du den Preis ihr
Zuzuwerfen bereit, aber die Schönere naht,
Ach, und die Schönste von allen zuletzt, die Schwester des Schiffers,
Der sein gastliches Dach gern mit dem Fremdling geteilt.
Sechzehn Sommer erlebte sie kaum, doch blickt aus den dunkeln
Wimpern ein sehnsuchtsvoll träumendes Auge bereits,
Und frühzeitig gereift am Strahle der milderen Sonne
Birgt die vollendete Brust schon ein erwachend Gefühl.
Winkst du mir, Charmion, reizendes Kind? Vom sprudelnden Brunnen
Über die Stufen empor soll ich dir folgen ins Haus?
Wohl, ich gehorche dem Blick, und du führst mich ins duftende Gärtchen,
Wo der Granatbusch prangt, wo das Basilikum sprießt,
Und Hesperiens Baum uns im Schatten empfängt, mit der Fülle
Goldener Äpfel zugleich, silberner Blüten geschmückt.[284]
Stumm dort bietest du mir die zerbrochene Frucht der Orange,
Mir die Hälfte und nimmst sinnend die Hälfte für dich.
Soll es ein Zeichen mir sein, Holdselige, daß du mir gut bist?
Daß es dich schmerzt, mich so bald scheiden zu sehen? – Du nickst,
Und mit streifender Hand die achatenen Locken entfesselnd
Schmiegst du dich an mich und reichst weinend den Mund mir empor.
Wer bezwänge sich da! Wer stieße die köstliche Gabe
Frostig zurück, ein Barbar, wenn sie die Grazie beut!
Einmal laß mich im Kuß die ambrosischen Lippen berühren,
Einmal schling' ich den Arm um den bezaubernden Wuchs,
Und umfangen von dir, im Innersten schauernd, empfind' ich's,
Wie dein pochendes Herz heiß an das meine sich drängt.
Hältst du mich fest? Laß ab! Du sollst der beglückenden Stund' einst
Heiter gedenken und nie, was du mir schenktest, bereun.
Laß und trockne das süße Gesicht! Schon hör' ich den Bruder,
Der zum Hafen ans Schiff dringend den Säumigen ruft.
Lebe denn wohl! Lebwohl! Und sei für immer gesegnet!
Ewig jugendlich hier bleibst du ins Herz mir geprägt.
Aus dem azurenen Meer wird stets dein Auge mich grüßen,
Jede Zypresse des Hains, Schlanke, gemahnt mich an dich,
Bei den Rosen Athens will dein ich denken, und wenn mich
Kalt und düster dereinst wieder der Norden umgraut,
Soll dein reizendes Bild im hyperboreischen Dunkel
Mir wie die Sonn' aufgehn, Charmion, liebliches Kind.
Ausgewählte Ausgaben von
Spätherbstblätter
|
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro