Erinnerung

[282] Spät abends wohl, wenn draußen sturmdurchschauert

In Nacht und Schnee die öde Gasse trauert,

Und um den Turm das Volk der Krähen lärmt,

Trägt mich ein Traum zu jenen Frühherbsttagen,

Die ich mit jugendseligem Behagen

In Attikas Gebirg' verschwärmt.


Da scheint des Alters trüber Bann gebrochen,

Mein Blut hebt leicht und fröhlich an zu pochen,

Ich habe wieder zweiundzwanzig Jahr'.

Ein sanfter Lichtstrom rieselt um mich nieder,

Und trunknen Auges grüß' ich alles wieder,

Was damals mein Entzücken war:


Das tiefe Blau durchrauscht vom Flug der Tauben,

Die luft'ge Villa, die aus Myrtenlauben

Vom Hang Pentelis nach dem Meere sah,

Die Pinienschlucht getaucht in Abendgluten

Und jene Grotte mit den Silberfluten

Im Ölwald von Kephissia.


Da kommst auch du blauäugig Kind, Agathe,

Im schwarzen Haar die Blüte der Granate,

Herab den Felspfad, in der Hand den Krug;

So wandelt' Hebe wohl im Götterreigen,

Doch unbewußt des Zaubers, der dein eigen,

Schwebst grüßend du vorbei im Flug.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 282.
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