Lebensstimmung

[295] Hab' ich einst ehrgeizigen Wunsch als Jüngling

Unbedacht im Busen genährt: ich bannt' ihn

Längst; dem Weltlaufkundigen geht kein Gut mehr

Über die Freiheit.


Mag, wer will, am Sessel der Macht, um Einfluß

Buhlend, stets abhängiges Los ertragen

Oder, laut vom Volke bejauchzt, des Volkes

Laune gehorchen!


Mir gefällt's, nach eigenem Trieb in ernster

Muße, fern vom Stimmengebraus des Marktes,

Bald im Schicksalsbuche der Zeit die dunkle

Schrift zu enträtseln,


Bald am Reichtum griechischer Kunst und Schönheit,

An Homers einfacher Gewalt zu prüfen,

Was die Neuzeit Mächtiges schuf, von andern

Sternen geleitet,


Oder tagwerkmüde dem Zug der Wolken

Nachzuschaun und irgendein Lied zu summen,

Wie's dem einsam Träumenden Hoffnung eingibt

Oder Erinnrung.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 295-296.
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