An eine junge Sängerin

[296] Ach, noch einmal diese Töne,

Die mir Flügel in das schöne

Zauberland der Jugend sind!

Laß sie schwellen voll und leise!

Diese Weise

Sang einst deine Mutter, Kind.


Am Klavier dort in der Nische

Saß sie, wenn des Abends Frische

Klar ins offne Fenster drang;

Golden wob's um ihre Locken,

Und wie Glocken

Schwebte wogend ihr Gesang.[296]


Ach, das war vor langen Jahren,

Eh' ich in die Welt gefahren,

Hoch im Sturm noch trieb mein Herz;

Aber stets bei ihrem Liede

Kam ein Friede

In des Jünglings Lust und Schmerz.


Grau jetzt, mit gedämpftem Feuer,

Einsam kehr' ich; die mir teuer,

Gingen alle fast zur Ruh';

Sie auch schläft, die süße Rose,

Unterm Moose,

Doch ihr Ebenbild bist du.


Singe, Kind, und in die blauen

Augen laß mich tief dir schauen!

Jugendheimwärts träumt mein Sinn,

Und von längst entschwundnen Lenzen

Zieht ein Glänzen

Durch die müde Brust dahin.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 296-297.
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