Kreuzzug

[172] Frühjahr 1841.


O Schmach und Schimpf, Europa, dir und deiner tatenlosen Ruh'!

In Flammen steht Jerusalem, und träge feiernd schaust du zu;

Das Grab, darin der Heiland lag, es ward der Muselmänner Spott,

Doch du verrätst in schnödem Geiz noch heut wie Judas deinen Gott.


Hätt' ich ein Lied so rot wie Blut und laut wie Kriegstrompetenschall,

Zu allen Thronen sendet' ich's, bis daß es fände Widerhall,[172]

Von Land zu Lande sollt' es ziehn durch alles Volk des Okzidents

Und werben für die heil'ge Stadt, wie jener Mönch von Amienz.


Ja, rufen sollt' es aus dem Grab die Zeit, von Ruhm und Taten voll,

Als vor der Andacht mächt'gem Hauch hochflatternd jedes Banner schwoll,

Als, wo es Gottes Sache galt, der Greis der Narben nicht gedacht,

Und froh sein sechszehnjähr'ges Blut der blonde Knabe dargebracht.


Da wälzte sich lawinengleich durch Land und Meer der Kriegesruf,

Da funkelt' hell das Christenschwert, da klang des Christenrosses Huf,

Wie Judas Wolkensäule zog das Kreuz den Streitern hoch voran,

Bis sie vom Ölberg Zions Burg im Morgenrote vor sich sahn.


Ei, wie so anders lenkt ihr Schiff die Staatskunst jetzt in schlauer Pflicht,

Am Steuer sitzt der Eigennutz, und die Devis' heißt: Gleichgewicht;

Jetzt wird auf morschem Minarett der rost'ge Halbmond klug gestützt,

Und mit der Feuerschlünde Wut des alten Erbfeinds Reich geschützt.


O England, Meeresfürstin, wird dein weißer Fels nicht rot vor Scham,

Denkst du an Richard Löwenherz, der Ehre kühnen Bräutigam?[173]

O Deutschland, rauscht auf deinen Höhn der Wald nicht nach Prophetenart,

Dir zu verkünden, wie da starb dein Kaiser mit dem roten Bart?


O Frankreich, ist in deinem Ohr denn klanglos das Gerücht verhallt,

Wie deiner Söhne Panzerschritt gen Sonnenaufgang einst gewallt?

Tönt aus gewölbter Königsgruft zu Saint-Denis um Mitternacht

Des heil'gen Ludwigs Stimme nicht und ruft zur Sarazenenschlacht?


Das waren Helden! Ob am Gaum der letzte Tropfen war verdorrt,

Sie achteten des Durstes nicht, sie hielten fest und kämpften fort,

Die Wüste trank der Schlachten Blut, auf fahlen Flügeln kam die Pest,

Der Sandwind grub die Leichen ein - sie kämpften fort und hielten fest.


Jetzt gilt es nicht mehr, jahrelang die heißen Steppen zu durchziehn,

Nicht mehr mit braunen Reitern steht entgegen euch ein Saladin;

Nur eines Winkes braucht's von euch, und eurer Feinde Burg zerbricht,

Nur eines Winkes, und befreit ist Zion - doch ihr winket nicht!


O Schmach und Scham, Europa, dir und deiner tatenlosen Ruh'!

In Flammen steht Jerusalem, und träge feiernd schaust du zu,

Das Grab, darin der Heiland lag, es ist der Muselmänner Spott,

Doch du verrätst in schnödem Geiz noch heut wie Judas deinen Gott.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 172-174.
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