VIERTES BILD

[21] Leila von der quelle kommend. Timon wird im hintergrund sichtbar.


LEILA

– – – Eben kommt er!

Fast fahre ich zurück vor seinem anblick.

Und heftger schlag ist mir sein händedruck.

Sie geht ihm entgegen.


TIMON

(sie umarmend)

Du hast geweint – ich seh es wol mein kind –

Dass ich so lange weggeblieben bin.


LEILA

Mein vater!


TIMON

Und wie vertriebst du dir die zeit?[22]


LEILA

Ich strickte an dem netze dort am brunnen.

Und so verging die zeit.


TIMON

Und heute hast du nicht umsonst gewartet ·

Ich komme nicht mit leerer hand zurück.

Du sollst ein wunder sehn.


LEILA

(bebend)

Doch willst du nicht zuerst ins haus?

Du bist gewiss ermüdet.


TIMON

Nein · sieh zuerst!

Sieh was ich aus der stadt für dich gebracht.

Du wünschtest einen ring und eine kette

Wie von den reichen sie getragen werden.

Ich wollte zwar nicht gerne sehen dass

An solchen eitlen dingen du dich freutest –

(er zieht ring und kette hervor.)

Hier hast du beides. Wie es glänzt!

Der goldschmied sah mit grossem aug mich an[23]

Als ich der arme unscheinliche mann

So kostbares geräte kaufen wollte.

Doch für mein liebes kind ist nichts zu kostbar.


Sie nimmt das geschmeide in die hand · betrachtet es und gibt es überwältigt zurück.


LEILA

Nimm hier dein geschenk zurück ..

Denn ich verdien es nicht.


TIMON

Was ist geschehen · Leila?


LEILA

Ich kann nicht länger heucheln · vater.

Ich muss dir endlich alles eingestehn.

Du wirst verzeihen.


TIMON

Rede schnell · was ist?


LEILA

Wenn ich dir sagte dass ich stets dich liebte

Und mehr noch als vor jahren · war das wahr.[24]

Doch wenn ich sagte: dich allein · mein vater ·

So war das nicht wahr.


TIMON

Was · unglückselige!

(sie am arm fassend)


LEILA

(sich niederwerfend)

Verzeihung vater! aus der hauptstadt kam

Ein jüngling an dem brunnen einst vorbei ·

Er war so freundlich und so schön und herrlich

Dass ich ihn lieben musste –


(Timon macht eine heftige bewegung.)


Wir trafen uns zuweilen an der quelle ·

Er sagte immer mir dass er mich liebte ..


TIMON

(wild)

Was weiter?


LEILA

Beim abschied küsste er mich auf die stirn.[25]


TIMON

Verbirg mir nichts von deiner schande · weiter!


LEILA

O nichts · mein vater.


TIMON

(drohend)

Du lügst –


LEILA

Ich schwöre dir bei meiner seligkeit.


TIMON

O Gott · so hart hast du mich strafen müssen!

Ich glaubte sie so engelrein und fromm

Indessen sie mich schmählich hinterging.

Von ihres buhlen frischen küssen triefend

Kam sie an ihres armen vaters brust

Und schmeichelte und schwazte!

O fluch dir · falsches kind!

Geh denn zu deinem buhlen

Anstatt dem alten vater zu gefallen

Der alles dir geopfert. Fluch dir!


[26] Er geht der hütte zu. Leila streckt flehend die hände nach ihm. Er weist sie barsch ab. Sie sinkt laut weinend zusammen. Timon sieht sich einigemal unentschlossen nach ihr um und tritt dann rasch in die hütte.

Nach einiger zeit kommt er heraus · geht auf sie zu und sagt in ruhigem ganz verändertem ton.


TIMON

Leila!

Du kannst nicht diese nacht im freien bleiben.

Komm mit!


LEILA

(sich aufraffend)

O mein vater!


TIMON

(fast schreiend)

Aber sprich kein wort.

Sonst bleibst du vor der schwelle

Und kannst dich mit den tieren schlafen legen.


Sie steht bebend da · er fasst sie bei der hand und nimmt sie mit sich.

Quelle:
George, Stefan: Schlussband, Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 18, Berlin 1934, S. 21-27.
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