[21] Leila von der quelle kommend. Timon wird im hintergrund sichtbar.
LEILA
– – – Eben kommt er!
Fast fahre ich zurück vor seinem anblick.
Und heftger schlag ist mir sein händedruck.
Sie geht ihm entgegen.
TIMON
(sie umarmend)
Du hast geweint – ich seh es wol mein kind –
Dass ich so lange weggeblieben bin.
LEILA
Mein vater!
TIMON
Und wie vertriebst du dir die zeit?[22]
LEILA
Ich strickte an dem netze dort am brunnen.
Und so verging die zeit.
TIMON
Und heute hast du nicht umsonst gewartet ·
Ich komme nicht mit leerer hand zurück.
Du sollst ein wunder sehn.
LEILA
(bebend)
Doch willst du nicht zuerst ins haus?
Du bist gewiss ermüdet.
TIMON
Nein · sieh zuerst!
Sieh was ich aus der stadt für dich gebracht.
Du wünschtest einen ring und eine kette
Wie von den reichen sie getragen werden.
Ich wollte zwar nicht gerne sehen dass
An solchen eitlen dingen du dich freutest –
(er zieht ring und kette hervor.)
Hier hast du beides. Wie es glänzt!
Der goldschmied sah mit grossem aug mich an[23]
Als ich der arme unscheinliche mann
So kostbares geräte kaufen wollte.
Doch für mein liebes kind ist nichts zu kostbar.
Sie nimmt das geschmeide in die hand · betrachtet es und gibt es überwältigt zurück.
LEILA
Nimm hier dein geschenk zurück ..
Denn ich verdien es nicht.
TIMON
Was ist geschehen · Leila?
LEILA
Ich kann nicht länger heucheln · vater.
Ich muss dir endlich alles eingestehn.
Du wirst verzeihen.
TIMON
Rede schnell · was ist?
LEILA
Wenn ich dir sagte dass ich stets dich liebte
Und mehr noch als vor jahren · war das wahr.[24]
Doch wenn ich sagte: dich allein · mein vater ·
So war das nicht wahr.
TIMON
Was · unglückselige!
(sie am arm fassend)
LEILA
(sich niederwerfend)
Verzeihung vater! aus der hauptstadt kam
Ein jüngling an dem brunnen einst vorbei ·
Er war so freundlich und so schön und herrlich
Dass ich ihn lieben musste –
(Timon macht eine heftige bewegung.)
Wir trafen uns zuweilen an der quelle ·
Er sagte immer mir dass er mich liebte ..
TIMON
(wild)
Was weiter?
LEILA
Beim abschied küsste er mich auf die stirn.[25]
TIMON
Verbirg mir nichts von deiner schande · weiter!
LEILA
O nichts · mein vater.
TIMON
(drohend)
Du lügst –
LEILA
Ich schwöre dir bei meiner seligkeit.
TIMON
O Gott · so hart hast du mich strafen müssen!
Ich glaubte sie so engelrein und fromm
Indessen sie mich schmählich hinterging.
Von ihres buhlen frischen küssen triefend
Kam sie an ihres armen vaters brust
Und schmeichelte und schwazte!
O fluch dir · falsches kind!
Geh denn zu deinem buhlen
Anstatt dem alten vater zu gefallen
Der alles dir geopfert. Fluch dir!
[26] Er geht der hütte zu. Leila streckt flehend die hände nach ihm. Er weist sie barsch ab. Sie sinkt laut weinend zusammen. Timon sieht sich einigemal unentschlossen nach ihr um und tritt dann rasch in die hütte.
Nach einiger zeit kommt er heraus · geht auf sie zu und sagt in ruhigem ganz verändertem ton.
TIMON
Leila!
Du kannst nicht diese nacht im freien bleiben.
Komm mit!
LEILA
(sich aufraffend)
O mein vater!
TIMON
(fast schreiend)
Aber sprich kein wort.
Sonst bleibst du vor der schwelle
Und kannst dich mit den tieren schlafen legen.
Sie steht bebend da · er fasst sie bei der hand und nimmt sie mit sich.
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro