ACHTE FOLGE · 1909

[43] Die Blätter für die Kunst die während der lezten jahre nicht mehr in fortlaufenden heften erschienen haben in der herausgabe von büchern der mitarbeiter ihre fortsetzung gefunden und so von dem einzel-beitrag das auge mehr auf ein ganzes werk gelenkt. Seit ihrer lezten überschau hat sich ihre stellung bedeutend verändert und wer nicht von tag zu tag sondern aus genügender entfernung sieht bemerkt dass alles was heute unsre jüngste dichtung ausmacht hier seinen ausgang genommen oder seine anregung empfangen hat. Die bemängelnden richter entlehnen hier ihre maasse · die übriggebliebnen der wirklichkeits-schule glauben sich in den schönheitsmantel kleiden zu müssen und die hüter der alltags-lebendigkeit schreiben ›stilvolle‹ sonette. Was man noch vor zwanzig jahren für unmöglich gehalten hätte: heute machen bei uns Dutzende leidliche verse und Dutzende schreiben eine leidliche rede · ja das neue Dichterische findet wenn auch in der zehnfachen verdünnung öffentlichen und behördlichen beifall. Damit ist ein teil der Sendung erfüllt.

Nun muss man umgekehrt bei aller wertschätzung der schule vor einer gewissen geläufigkeit warnen die das echte überwuchert und für die alten verwirrungen neue sezt und vor einer rührigkeit die die kaum halbgebornen werte totredet. Man vergesse auch nicht dass die grenze des erreichbaren noch fern ist und dass die von diesem kreise abgesprengten die sich noch nicht zur gänzlichen entwürdigung ihrer muse entschliessen konnten vergeblich des allgemeinen beifalls harren. Das gibt denen die den tempel verlassen haben · in den vorhof ja auf die strasse geschritten sind eine mahnung sich wieder ins Innerste zurückzuziehen · und alle die es mit unsrer kunst und bildung ernst meinen werden sich der goldnen Blätterregel aus der zeit ihrer morgenfrühe erinnern: ›dass nichts was der öffentlichkeit entgegenkommt auch nur den allergeringsten wert hat‹ und dass nur eines not tut: ›ein weiterschreiten in andacht arbeit und stille‹.


DER KÜNSTLER UND DIE ALLGEMEINHEIT

[43] Man beklagt sich darüber dass der Künstler sich nicht mehr auf die herrschenden allgemeinheiten stüzt und doch folgt er dabei nur einem naturgesetz. Allgemeinheiten bestehen heute nicht mehr kraft wesenhafter normen und innrer nötigungen sondern durch zufällige übereinkünfte und wirtschaftliche bedürfnisse. Sie sind nicht mehr eingerichtet auf die stammhafte und ersterhand-leistung (originäre und primäre) auch nicht beim Künstler.

Der Künstler allein · vielleicht auch der beruflose betrachter der sich von diesen allgemeinheiten unabhängig hält hat noch die möglichkeit in einem Reiche zu leben wo der Geist das oberste gesetz gibt. Daher seine absonderung und sein stolz. Das innerste leiden der zeit kommt daher dass trotz vieler sachlicher vervollkommnungen alle allgemeinheiten ohne unterschied von stamm partei und glaubensbekenntnis nur noch die schmarotzer- und zweiterhand-leistung (parasitäre und sekundäre) hervorbringen und verwerten und kraft ihrer einrichtung keine andre hervorbringen und verwerten können: weshalb auch ihre dunkle sehnsucht nach dem Ersten hoffnungslos bleiben muss.

Heut ist wirklich ›die Kunst ein bruch mit der Gesellschaft‹.


ÜBER HERSAGEN VON GEDICHTEN

In Holland wurde durch den aufsatz von Albert Verwey in der ›Beweging‹ die aufmerksamkeit auf das hersagen von gedichten gelenkt. Er beginnt mit den sätzen: ›wenn dichter ihre verse lesen wird es von dem horchenden laien durchweg eintönig gefunden‹ und ›was der laie vortrag nennt ist ihm (dem dichter) ein greuel‹. Er führt die drei arten von vortragenden an · den sänger den redner den schauspieler die alle · jeder nach seiner weise · gedichte falsch lesen wenn sie nicht vom dichter unterwiesen werden. Das dichterische lesen · das bei uns eine durchaus unbekannte sache ist · nennt der laie der einmal zufällig etwas davon durch hören oder hörensagen vernahm eintönig (liturgisch psalmodierend): was aber an berichten über dichterisches lesen auf uns gekommen ist beweist dass ein dichter niemals anders gelesen hat und nie anders lesen kann.[44]

Bei uns holt sich wer selbst gedichte macht seine art des lesens vom schauspieler: sie ist dann nach der jeweiligen mode meiningerisch-pathetisch oder naturalistisch-prosaisch. Dazu ist freilich jeder gezwungen der nicht aus dem blut dem rhythmus sondern aus der bildung dem begriff dem geschmack also aus abgeleiteten (sekundären) kräften schafft. Das dramatische lesen lässt zwar eine grössere bewegtheit zu · aber auch hier ist es in guten zeiten so gewesen dass der dichter unterwies und den ton gab woraus sich dann die schauspielerische gepflogenheit entwickelte. Bei uns aber ist die schauspielerische gepflogenheit selbstherrlich geworden und wird unbarmherzig auf die verschiedenartigsten dichterischen gebilde angewandt.

Verwey gibt noch eine ausdeutung des Maassvollen · dasselbe was wir das Gebändigte nennen. ›Ein gedicht ist maassvolle lebensbewegung in versen. Glaubt jemand dass irgendeine lebensbewegung min der ist dadurch dass sie maassvoll ist? oder sehen wir nicht vielmehr dass völker und personen erst dann zeigen was in ihnen ist wenn schicksal und leben sie binden und einem festen maass unterwerfen? Kommt dann nicht erst ihr adel heraus · die kraft ihres widerstands · das feuer ihres laufs · die besonnenheit und bescheidenheit ihrer überlegung? Was waren die götter anders als das maass das die menschen sich gaben · worunter sie sich bückten und woran sie sich aufrichteten? Und so ist es auch mit worten: nur wenn die lebensbewegung in worten maassvoll wird kommt sie zu ihrer höchsten kraft und zu ihrem höchsten adel.‹


Der grund weshalb man in den stärker romanisierten ländern verhältnismässig gut · aber gerade im land der Dichter am wenigsten weiss was ein gedicht ist: man ist bei uns nur gewohnt · sinngemäss · skandierend (abzählend) oder schauspielerisch · nicht aber rhythmisch und dichterisch zu lesen. Auch alle hoch- und mittellehrer die zu hunderten unsrer jugend von der Antike reden können keinen begriff davon haben oder geben was ein griechischer chor eine römische ode ist wenn sie nicht einen wirklichen dichter wirklich dichterisch haben lesen hören.[45]

Ein andrer unsrer freunde sagt in seiner einleitung übers lesen von gedichten:

Nach dem gesprochenen wort als erscheinung eines dichterischen gebildes ist bei uns kein bedürfnis vorhanden. Es gibt ein verlangen nach rede als ausdrucksmittel einer meinung und es gibt ein verlangen nach vorgetragener musik. Vielleicht gibt es darum kein verlangen nach dem dichterischen rhythmus weil das verlangen nach dem musikalischen so stark vorhanden ist und befriedigt wird. Die beiden rhythmen sind selten in Einer seele lebendig · nur wenige dichter sind musikalisch · wenige musiker dichterisch. Höchster musik-rhythmus und höchster poesie-rhythmus schliessen sich aus weil sie verkörperung derselben weltsubstanz aber verschiedene aggregatzustände sind · also weil wasser nicht zugleich eis sein kann. In den stärker romanisierten ländern sowie in der Antike gab es keine ›Überladung mit Musik · welche bei uns das unzusammengehörige verdeckt‹. (Burckhardt.)


ÜBER DAS DRAMA

Wo kein dramatischer wind die gesamtheit füllt · kein dramatischer urtrieb mehr den einzelnen stösst · wie in Shakespeares tagen · wird die theatermache noch gehalten durch das schaubedürfnis der massen das sich ebensogut nach andrer seite entladen könnte · durch das gewohnheitsmässige vorhandensein von bühnen und schauspielern – zu schweigen von wirtschaftlichen nötigungen – sodann durch literarische erinnrungen und begriffe die längst mit andren hohlen schulformeln (etwa über das lehrgedicht · über geschichtsmalerei usw.) sich verloren hätten · wenn sie nicht durch das fortbestehn eben jener anstalten ein scheindasein fristen dürften. Heutige theaterstücke · auch die besten · entstehen nicht als gewächse und früchte · werden nicht mit organen aus organen gezeugt · nähren sich aus keiner luft keinem boden sondern werden gefertigt nach irgendeiner ältern oder neuern geschriebnen oder ungeschriebnen anweisung in der art von Freytags Technik des Dramas. Sie sind angewandte literaturgeschichte: alle einzelnen teile lassen sich mit mehr oder minder geschickter verdeckung der fugen und nähte zusammenstücken[46] · stoff · ›problem‹ · charaktere · ›milieu‹ · stimmung · ja selbst sprache – je nach der forderung des markts oder der erziehung des verfassers. So gibt es dramen nur weil die kostspieligen maschinen einmal da sind und weil deren umdrehung zuweilen grossen gewinn abwirft.

Das einzige wenigstens nach einer richtung hin denkbare drama ist heute das bürgerliche (das moderne sittenstück) mit dem wir uns aber nicht zu befassen haben weil es der ausdruck einer unvollständigen kümmerlichen und verfallenden welt ist von der die strebenden und einsichtigeren geister der zeit längst weggerückt sind.

Das Mysterienspiel aber auf das hier hingewiesen wurde · als den ausdruck einer eben erst sich bildenden welt · hat mit den bekannten voraussetzungen der bühne nichts zu schaffen und ist noch zu neu um ein gegenstand der betrachtung werden zu können.

›Wie können wir die deutsche malerei heben und neu beleben? durch gründung einer rahmenfabrik im grössten stil: Denn sind erst die geschmackvollen rahmen vorhanden so werden sich auch die guten bilder einstellen‹. Mit einer solchen kindlichen hoffnung geht man heut an verbesserung und erneurung des äusseren gerüsts zur neubelebung des dramas. Alle diese anstrengungen des bühnenleiters · malers und darstellers dienen nur dazu die aufmerksamkeit auf nebendinge zu schieben und des dramas wahre bestimmung in vergessenheit zu bringen. Wenn eine erneurung des dramas kommt so kommt sie nur durch den rhythmus und durch eines dichters lebendige stimme. Wer heute seinen ein- oder mehrakter zur aufführung an einer heutigen bühne einreicht und ein heutiges gemisch aus pöbel und halbgebildeten zu richtern herbeiruft beweist schon damit dass er sich nur in die wagnisse einer zweifelhaften unternehmung stürzen will · dass er aber vom wesen der dichtung · der kunst und des dramas noch nicht berührt worden ist.

›Und weil du Dionysos verlassen so verliess dich Apollo. Jage alle leidenschaften von ihrem lager auf und banne sie in deinen kreis · spitze und feile dir für die reden deiner helden eine sophistische dialektik zurecht – auch deine helden haben nur nachgeahmte maskierte leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskierte reden.‹ (Nietzsche.)[47]

Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 43-48.
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