DRITTE FOLGE · VIERTES HEFT · 1896

[18] Die ursachen die unser volk und heutiges geschlecht zur aufnahme von Kunst so besonders unfähig machen haben wir erwogen und schon manche davon an dieser stelle gestreift, doch werden wir nicht erschrecken vor prophezeiungen vom völligen dahinschwinden der dichtung und der kunst, versuchte man auch die notwendigkeit ihres untergangs mit gewichtigen und verführenden gründen darzutun. Solche meinung – möge sie nun von denen herrühren die nie des schaffens kraft besessen oder von denen die sie eingebüsst haben – würde sogar wenn einer der unsrigen später sie zu teilen sich unterfinge nur geringe bedeutung haben. denn die werdende jugend wird darüber lächeln und den vom alter tot zurückgelassenen formen in unerwarteter weise neues und glühendes leben einhauchen.


Unsren grossen vorfahren in der kunst war es gegeben auf jungfräulichen und unerschöpften welten ein gebäude – ein ganzes – aufzuführen. daher ihre heute so unnahbare uns so oft entgegengehaltene grösse. ihnen beizukommen ist uns nur möglich durch innigere empfindung liebevolleres anschauen zusammengefasstere ausführung. was sie aus ungehauenen wäldern unausgebeuteten feldern entnahmen, müssen wir aus den tiefen zu gewinnen suchen.


Die einen zu uns: eure haltung ist uns denn doch zu kalt und ruhig und zu wenig der jugend angemessen. wir zu ihnen: Seid ihr noch nicht vom gedanken überfallen worden dass in diesen glatten und zarten seiten vielleicht mehr aufruhr enthalten ist als in all euren donnernden und zerstörenden kampfreden?


Wir nehmen es gern auf uns noch manchmal mit dem äusseren als dem nietrügenden spiegel des innern zu unterhalten. seht ihr also noch immer nicht, dass eure deutschen buch- und zeitschriftausgaben die schönheitswidrigsten sind, sowol der rohe flitter- und emporkömmlingsprunk der einen als die platte und nüchterne alltäglichkeit der andern?


Man wollte uns beweisen dass wir durch verbannen der gewöhnlichen[18] beliebteren schriftart die bequemlichkeit der einen davon abhalten sich unsren werken zu nähern und bei anderen als gegnern des absonderlichen anstossen. an den ersten glauben wir kaum viel zu verlieren, den zweiten sagen wir dass nicht wir zu dieser neuerung den anschlag gegeben haben und dass uns ein wort eines altvordern zu sehr im gedächtnis ist: den Deutschen werde eher der geschmack nicht kommen bis sie sich diese geschmacklose sogenannte deutsche schrift abgewöhnt hätten.


BERUF DER HALB-FÄHIGEN. das schicksal lässt es häufig zu dass halbfähige die neuen und grossen gedanken in der weise verallgemeinern dass sie das fremde neue mit bekanntem altem vermischen und nach und nach in immer stärkeren gaben der menge eintröpfeln. diese geniesst dann vorerst in verdünntem zustand den wein der rein für sie zu schwer war.


Wie erfinderisch die mittelmässigkeit wird wenn es gilt sich zu verhüllen! – Hält man uns nun die dichtung von bauern und bäuerinnen entgegen die alle kunst in schatten stelle, wahreres und endgültigeres es doch nichts gebe! mit demselben recht könnte man aller weltweisheit die kernsprüche des volkes entgegenhalten als schon alle menschliche erkenntnis in sich bergend. aber ganz abgesehen davon dass diese scheinbar so einfachen werke oft mit der äussersten mühsamkeit und künstlichkeit zu stande gebracht werden, und dass gerade die ungeschicklichkeit (über die sich jeder leser im geheimen erhaben glaubt) es ist welche die wirkung hervorbringt – so handelt es sich doch nicht blos darum gold und edelstein aufzufinden sondern auch darum sie von rohen beimischungen und schlacken zu befreien und durch schleifen oder schmelzen ihnen den rechten glanz zu verleihen.[19]

Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 18-20.
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