DRITTE FOLGE · ZWEITES HEFT · 1896

[15] Mit ernst und heiligkeit der kunst nahen: das war dem ganzen uns vorausgehenden dichtergeschlecht unbekannt. keiner der ›Epigonen‹ – so wenig der hochgeborene Schack wie der bescheidene bürgerliche reimer – ist frei von der abstossenden behäbigen bravheit und diesem rest von barbarentum den von Goethe bis Nietzsche alle grossen Deutschen getadelt haben.

Läge der grund weshalb im kaiserlichen Deutschland das schrifttum auf so niedrer stufe steht darin dass jeder mit irgend welchen fähigkeiten geborene sich einer staatlichen laufbahn zuwendet und das schrifttum fast einzig der geistigen hefe überlässt oder darin dass der schwerpunkt deutschen strebens nach gebieten verlegt wurde wo die kunst nie gedieh und in absehbarer zeit nicht gedeihen kann?


Die tatsache dass es bei uns kein künstlerisches und dichterisches ereignis geben kann beweist dass wir uns in einem bildungsstaat zweiter ordnung befinden.


Unser ganzes schrifttum von gestern ist sittlich (sogar das behördlich verbotene) bürgerlich-pöbelhaft und unterhaltend-belehrend. wir können nur eines fassen das schön vornehm beeindruckend ist1.


Heute einseitig auf den volkston hinzuweisen wäre gerade so verkehrt als auf griechentum mittelalter u.ä. – denn er liegt uns in gleicher weise fern.


Vom nordischen geist bleibt dem deutschen nicht viel zu lernen was er nicht schon besizt ohne die verzerrungen. vom romanischen jedoch die klarheit weite sonnigkeit.


Der ›naturalismus‹ hat nur verhässlicht wo man früher verschönte aber strenggenommen nie die wirklichkeit wiedergegeben. dem Franzosen ist er das absichtliche zusammentragen von in wahrheit nie[15] sich folgenden begebnissen, dem Norweger ist er das ausschweifendste spiel mit möglichkeiten, dem Russen der beständige alpdruck.


Wir sind bereit manche heilsamen einflüsse des ›naturalismus‹ anzuerkennen vergessen aber einen unberechenbaren schaden nicht: dass er uns daran gewöhnt hat gewisse begleitende bewegungen einer handlung zur vollständigkeit zu fordern, die aber wenn sie vom dichter berücksichtigt werden jedes werk grossen zuges unmöglich machen.


Praerafaeliten und ähnliche: das gewollte hervortretenlassen gewisser wesentlicher eigentümlichkeiten für beschauer die das genaue sehen verlernt und für die man schon sehr stark auftragen muss um bemerkt zu werden.


Um einen gedanken auszudrücken, eine geschichte zu erklären: den tatsächlichen worten takte und reime einzupressen ist ein mittelmässiges handwerk. wäre das spiel mit takten und reimen überhaupt eines vernünftigen wesens würdig wenn diese sich nicht unwiderstehlich als sangesweise aufdrängten? oft dienen worte gedanken ja bilder nur zur körperlichen darstellung der sangesweise.


Jungen dichtern: ihr tut euch unrecht eure werke zu früh zu veröffentlichen. denn ganz bald werdet ihr bereuen dass ihr eure liebsten gedanken wie ihr sie vielleicht nie grösser fassen werdet in einer ungenügenden form bereits verraten habt.


Einigen dichtern an dieser stelle: wir loben euch dass ihr uns wenig von euren schönen ansichten und viel von euren schönen liedern gegeben habt. denn eure schönen ansichten werden sich ändern eure schönen lieder aber werden bleiben.


Vielen sogenannten ›jüngsten‹: was ihr am wenigsten geben wolltet was ihr am sorgfältigsten zu zerdrücken suchtet: das ist noch das einzige was uns an euch gefallen kann: der duft eurer jugend und eurer einfalt.


Bevor in einem land eine grosse kunst zum blühen kommt muss[16] durch mehrere geschlechter hindurch der geschmack gepflegt worden sein.


Das verwerfen jeder übereinkunft in gesellschaft und kunst ist entweder sehr jung oder sehr gemein. leute von niederer abstammung haben keine überlieferung.


Man hat uns vorgehalten unsere ganze kunstbewegung der ›Blätter‹ sei zu südlich zu wenig deutsch. nun ist aber fast die hervorragendste und natürlichste aller deutschen stammeseigenheiten: in dem süden die vervollständigung zu suchen, in dem süden von dem unsere vorfahren besitz ergriffen, zu dem unsre kaiser niederstiegen um die wesentliche weihe zu empfangen, zu dem wir dichter pilgern um zu der tiefe das licht zu finden: ewige regel im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Fußnoten

1 Im deutschen würde man dafür die worte moralisch plebejisch-bourgeois belletristisch-didaktisch usw. einsetzen.[17]


Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 15-18.
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