DRITTE FOLGE · FÜNFTES HEFT · 1896

[20] Insofern dürfte dieses unternehmen bald aus seinen schranken heraustreten als man mit uns zu bemerken und zu bedauern beginnt dass hinter allen gebildeten ländern das unsrige in stil und geschmack seit jahren zurückgeblieben ist: als in weiteren denkenden kreisen empfunden wird dass durch die ausschliessliche erziehung eines geschlechtes zu wechselseitigem hartem kampfe ein wichtiges etwas verloren ging – ja schon auf einigen ragenden gipfeln ein dunkles gefühl dämmert es möchte das grösste und edelste einer rasse sein was da einer allmählichen verflachung und vertrocknung entgegenläuft.

Wir suchten die umkehr in der KUNST einzuleiten und überlassen es andren zu entwickeln wie sie aufs LEBEN fortgesezt werden müsse.

Wir wollen hier noch einige von der torheit verschobene punkte richtig setzen und uns gegen einige anschuldigungen verwahren die schein und missverständnis auf uns luden. wenn wir unserem volke mit der erlahmung des weiten und freien gedankens1 seine kunstlosigkeit und seine durch fremde einflüsse in bösen zeiten angenommenen schönheit-tötenden unsitten (die durchaus nicht in das tagende jahrhundert fortgeschleppt zu werden brauchen) manchmal nach drücklich entgegenhielten so haben wir alle unsere grossen förderer von Goethe bis Nietzsche mit ihren oft furchtbaren worten zu verteidigern und – wie sie – taten wir es nicht etwa aus einer missachtung unseres volkes sondern aus hoher liebe zu ihm und seiner angestammten guten art.

Auch den anschein möchten wir nicht erwecken als ob wir die uns in der kunst vorausgehende gruppe von dichtern mit geringschätzung betrachtet hätten. dass sie uns nicht verstehen ist ein zeitlicher fehler der sie nicht schändet so wenig wie den weisen von gestern dies: dass ihm was heut eines schülers eigentum ist nicht zu ergründen[20] gelang. wir lobten in ihnen (soweit sie nicht in spielerei und greisentum versanken) die treuen wahrer einer gewissen überlieferung die mit der hinterlassenschaft der ahnen ihre häuslichkeit verschönten doch können wir ihnen nicht anrechnen was wir nie in ihnen fanden: einen einzigen für unsere kunst fortwirkenden lebenbringenden hauch.

Diesen können wir den unmittelbar um uns sich regenden – sie trugen schon alle namen – noch weit weniger nachrühmen. erfüllt von ganz ausserkünstlerischen bestrebungen sind sie in ihren schriften gewöhnlich und in ihren spärlichen anschauungen über kunst veraltet und ungebildet. ihre gründungen die seit kurzem allerdings mit nachahmender treue auch etwas andres bieten wollen als gesellschaftliche rednerei, zuweilen mit einem sehr äusserlichen schein der neuheit bedeckt sind und sich vorderhand nur durch schlechten geschmack auszeichnen, suchen ihr gedeihen durch ein herabsteigen zur menge und kommen für die weiterentwicklung unseres schrifttumes nicht in betracht. doch auch diesen männern gegenüber liegt alle unachtung weit von uns. beklagen können wir nur das nutzlose verschwenden so vieler kräfte die in anderer tätigkeit als der dichtenden und schreibenden rühmliches zu leisten gewiss nicht verfehlt hätten.

Was an unseren blättern das wertvollste scheinen wird möge dies sein: dass sie von IHR allein angeregt an die grosse und ewige kunst wieder anbauen wollten und deren grundfeste die ernste dichtung stüzten, so tuend was seit jahrzehnten keinem mehr tuens würdig war. sie holten die werke derjenigen dichter aus dem dunkel hervor aus denen der neue frische geist in besonderer und bedeutsamer weise wiederschien. ihnen ward das seltene glück zu teil mitten in winter und wüste reiche duftende blumen zu finden. sie zeigten in den verschiedensten formen eine neue Schönheit.

Was die minder starken beiträge betrifft so wurden sie zur bildung des nötigen hintergrundes zugelassen, stets aber nur dann wenn wir darin ein erkennen der vorläufig einzig richtigen bahnen gewahrten oder ein gutes versprechen für die zukunft. sie anzustreichen ist leicht wie es denn leichter ist die kleinen vorsprünge und lücken zu bemängeln als deren bauliche notwendigkeit und dienlichkeit am ganzen denkmal zu begründen.[21]

Mit grosser vorsicht haben wir die ausländischen hervorragenden meister eingeführt, die hochverehrten helfer und ergänzer damals als unsere einheimischen erzeugnisse an zahl wol noch gering waren. vor nichts aber hüteten wir uns mehr als vor einem sinnlosen blossen herübernehmen und brachten nur das was durch die art der übertragung eigenster besitz geworden für unsere sprache unser schrifttum und unser Werk im einzelnen natürlich und zuträglich war.

Kleine äusserliche seltsamkeiten die anfänglich fragen hervorriefen hat der einsichtige längst gebilligt wenn er sie auch nur auffasste als bollwerk gegen den ansturm wilder horden deren sich noch männiglich erinnert und deren laute zügellosigkeit den erbarmenswertesten teil unserer schrifttum-geschichte füllen wird.

Dass unser anhang nur langsam wuchs war uns so sehr freude dass wir ein schnelleres zunehmen sogar für bedenklich gehalten hätten. auch dürfen wir es uns fast als gewinn anrechnen dass wir von zwei berufsscharen noch wenig beobachtet worden sind: gewissen gelehrten die wol nach äusserlichen merkzeichen in klassen sondern können aber zu eng sind um nach der bildungsstufe die sie voraussezt eine erscheinung zu bewerten – und den gewöhnlichen beschreibern und mittelspersonen geistiger schöpfungen, den verlegenen tastern in dem ihnen dunklen und unbekannten land der kunst.

Ohne besonderen belang erscheint es uns dass gewisse arten der erzählung und der für die schaubühne gedachten dichtwerke nur wenig raum inne haben, für uns mehr zufällige arten der gruppierung aus vorliebe oder zweck. das vornehmste ist der neue sich deutlich äussernde geist aus dem wie unsre sänge und reden so auch unsre schaustücke flossen und fliessen werden.

Wir sind des stolzen glaubens dass wir für diese jahre nicht nur das höchste gesammelt haben was in einem bestimmten fache menschlichen könnens eine ganze stämme-vereinigung hervorzubringen fähig war sondern wir hoffen auch den werdenden und kommenden die pfade geebnet zu haben auf denen sie weiterschreiten können zur entdeckung neuer immer reinerer kunsthimmel.

Fußnoten

1 Anzubiegen ist hier dass man gerade in dem lager weite und freihielt am meisten vermisst wo sie ausschliesslich als fahnenschmuck prangen sollen und wo alles was über höhere werte laut wird nicht nur gemeinplätzlich klingt sondern auch engherzig und über alle maassen bürgerlich.[22]


Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 20-23.
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