VIERTE FOLGE · ERSTES UND ZWEITES HEFT · 1897

[23] Dies sei uns noch immer anfang und ende: von DER Kunst zu reden: den künsten in ihren beziehungen und ihrem zusammenwirken eine die andre anregend und vor erstarrung bewahrend. nie wäre bei uns schrifttum und dichtung von heute in so traurige verödung geraten wenn ihre vertreter zu den gleich-lebenden meistern der bildenden und tonkunst den blick erhoben hätten.

Andrerseits hat es sich an diesen gerächt dass sie keine ebenbürtigen werke des schrifttums um sich sahen. so blieb auch unseren besten meistern manchmal der weg zum höchsten verlegt und sie mussten mitten unter werken ersten ranges immer wieder in jene bestürzende tüdeske plumpheit verfallen.

Auch alles frühere schöne in einem zweige der kunst ist für ein volk für einen zeitabschnitt gleichsam gebunden wenn nicht in diesem zweig ein grosser schönheit-finder ersteht der mit dem was er fürs heute entdeckt auch alles frühere schöne erlöst. das belegt uns sogar der all-umfassende Goethe der für malerei nur ein geringes verständnis haben konnte. so sind wir sehend geworden durch männer wie unser Böcklin.


Unsere unduldsamkeit gegenüber dem was in schrifttum und dichtung neben uns herläuft leitet sich daraus ab dass diese andren zielen zustrebenden erzeugnisse beständig mit kunst verwechselt werden und so jedes verständnis für die kunst abstumpfen. alle kunst hört auf wenn sie um dem ausspruch eines berühmten tondichters zu folgen ›real-programmatisch-tendenziös‹ wird. ein ganzes geschlecht ist noch nicht willens diesen bequemen standpunkt zu verlassen.

Auch denen die jezt zur allgemeinen umkehr mahnen ist durch die lange gewohnheit so das gefühl erstarrt und der blick getrübt dass ehe sie sich wieder mit kunst beschäftigen man ihnen raten muss sieben jahre hindurch über nichts nachzudenken als über das: warum ein gedicht schöner sei als eine gleiches sagende rede ein gemälde schöner als das genauere farbige lichtbild ein bildwerk schöner als die treuere wachsform.[23]

So werden jezt eigentümliche übergangsarbeiten hervorgezogen: mit eifrigem bemühen sich äusserlich als neue einzuführen und noch ganz im alten barbarischen geist befangen. die gefühle verworren die anschauungen verwischt die stile vermengt – mit hier und dort einem dämmern des neuen geistes in entwürfen ansätzen und flecken: vielfarbige stücke stürze und splitter.


Einigen die mit zu raschen schritten die schwenkung mitmachen wollen: ihr dürft anmut (grazie) nicht an fremden kunstwerken absehen wollen, denn es wird nie gelingen. lernet zuerst anmut (grazie) der eigenen haltung und bewegung. es ist bedeutsam dass ihr merket wie sehr sie euch fehle doch ist es langwierig den reigen zu erlernen mit nicht mehr jungen gliedmaassen.


Es ist ein irrtum dass nur grosse geister ein unternehmen mit grossem gedanken zu fördern vermöchten. von aller wichtigkeit ist es die kleineren zu erziehen und hinzuleiten auf dass sie die luft bilden in denen der grosse gedanken atmen kann.

Wir wissen wol dass der schönste kreis die grossen geister nicht hervorrufen kann, aber auch dies dass manche ihrer werke nur aus einem kreis heraus möglich werden.

Bedeutender trost für die kleineren: wenn ihr das höhere leben eurer führer begriffen habt so seid ihr nicht nur dazu nötig das feld frisch und locker zu erhalten sondern ihr sammelt gar oft blumen und früchte die – wenn ihr es selber nicht vermögt – ein grösserer später in seinen kranz flicht.


Ein weiterer ring der gesellschaft ist für kunst noch nicht zu gewinnen solange man nicht zu scheiden vermag zwischen der wesentlichen wirkung des kunstwerkes und der gemeinen stofflichen anregung durch das erzählte (anekdotische). kunstverständnis ist nur da zu finden wo ein kunstwerk als gebilde (rhythmisch) ergreift und ergriffen wird.

Des grossen kunstwerks beide geistige wirkungen sind folgende:

das begeisternde feuer: oft ohne verständnis

augenblicklich

nie wiederkehrend[24]

das klare geniessen: durch eindringen

nach und nach

immer wieder zu empfinden.


Einige hatten durch jahre an uns auszusetzen: das stete fehlen der äussersten schärfe – das häufige andeuten – das spröde nicht-ganz-erkennen-lassen. wir aber entdecken heute darin begrüssend das gewisse herbe mit dem zeitalter der wiedergeburt sich allemal eingeleitet haben.


Eine ganze niedergehende welt war bei allen ihren einrichtungen aufs ängstlichste bedacht den armen im geiste gerecht zu werden: möchte eine aufgehende sich vornehmen der reichen im geiste zu gedenken.


Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel: dass unsre jugend jezt das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: dass sie im leiblichen und geistigen nach schönen maassen sucht: dass sie von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter lanzknechtischer barbarei: dass sie die steife gradheit sowie das geduckte lastentragende der umlebenden als hässlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten will: dass sie schliesslich auch ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende.


NACHRICHTEN

... Auch von einer erleichterung der aufnahme in unseren mitgliederkreis sehen wir ab da erfahrung uns lehrte dass noch keinen ernsthaften uns wertvollen teilnehmer die mühe verdross sich den weg zu uns zu bahnen.[25]

Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 23-26.
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