Lied eines Mohren

[55] Darachna, komm, mein Wunsch, mein Lied!

Darachna, komm! der Tag entflieht.

Wo ist sie, sie, mein Wunsch, mein Lied?

Wie kömmts, daß sie verzieht?


Schwarz ist mein Mädchen, wie die Traube,

Die durch die Blätter dieser Laube,

Mit süßem Most beladen, glänzt.

Süß ist ihr Mund, wie der Geruch der Blume,

Die meine Stirn umkränzt.


Du Quell, der sich durch Goldsand schlängelt,

Rausch mirs herüber, wo sie ist.

Du rauschend Laub in Cederwäldern,

Sag mir es, wo mein Mädchen ist.


Ich harre fühllos, daß der Sand

Die Fersen mir verzehrt, und meine Seufzer wecken

Die Tieger dieses Hayns, die, durch den Durst entbrannt,

Weh mir! mein Blut von ferne lecken.
[56]

O Sonne! wenn auch ihr der Tod

Aus Höhlen oder Wäldern droht!

Wenn eine Schlange sie umflicht,

Ein Crocodill sie hascht, ein Scorpion sie sticht!

Eh treff ein Donner euch! Scheusale! wagt es nicht.


Mein Herz, mein Herz fleucht ihr entgegen:

Ich will an ihre Brust mich legen,

Das kleinste Röcheln spähn, und horchen, wie sie schlägt,

Und forschen, wo der Tod sich regt.


Wie Ambraduft will ich dich, Tod!

Mit jedem Odemzug aus ihren Adern trinken,

Auf ihren matten Busen sinken,

Und mit ihm sterben – süßer Tod!

Quelle:
Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Tändeleyen. Stuttgart 1966, S. 55-57.
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