Der Geschmack eines Kusses

[18] Als ich ein Knabe war, und von meinem Vater nach Paphos geschickt wurde, um die Liebe zu lernen: da erfuhr ich von einer Dryas – itzt, Schönen, könnt ihr es von mir erfahren – was Küsse sind. Nie tanzten die Nymphen und die Dryaden, ohne zu ihren Chören mich zuzulassen: denn ich war dem Gott der Liebe geweiht, und meine ganze Bildung redte Gefühl.


Dann konnt ich Knabe mich erfreun!

Ganz Paphos schien mir Tanz zu seyn.

Denn auf mir tanzten Liebesgötter,

Und unter mir die Blumenblätter.


Unter den Dryaden war eine, die mich vor allen andern immer zum Tanzen aufforderte, und mir meine kleine Hand liebreizend drückte, und anmuthig erröthete, wenn ich mit ihr tanzte. Auch ich drückte der Dryas freundlich die Hand, und erröthete, wenn ich mit ihr tanzte. Noch ehe Aurora, aus dem Oceane[19] herauffuhr, war ich schon im Hayne, und spielte mit der holdseligen Dryas.


Bald überrascht ich sie in Sträuchen,

Wo sie, entdeckt zu seyn, sanft in das Laub gerauscht;

Bald, wenn ich mich verbarg, ward ich von ihr belauscht,

Dann floh sie, wenn sie mich belauscht,

Und ich ihr nach, sie zu erreichen.

Doch schnell verschloß sie sich in Eichen,

Und wehrte mir, sie zu erreichen.

Dann klettert ich auf manchen Baum empor,

Und hörte sie verräthrisch lachen,

Und bat, ihr Eichenhaus mir Knaben aufzumachen,

Dann sprang sie froh aus ihrer Eich hervor, –


Einst, als ich mit meiner Dryas im Hayne spielte, streichelte sie mir freundlich die Wangen, und sprach: Drücke deine Lippen auf die meinigen, ich drückte sie auf die ihrigen, und o Himmel! welch ein Geschmack!
[20]

So süß ist Honig nicht, der vom Hymettus fließt;

So süß ist nicht die Frucht von Surentiner Reben:

So süß der Nektar nicht, durch den unsterblich Leben

Den Göttern Ganymed in güldne Schaalen gießt.


Itzt drückte sie wieder ihre Lippen auf die meinigen. Ganz trunken von Entzücken rief ich: o Unvergleichliche! wie nennest du diese Wollust, die von deinen Lippen auf die meinigen strömt, so oft sie ein ander berühren? Sie sprach mit einem holdseligen Lächeln: Küssen!

Quelle:
Heinrich Wilhelm von Gerstenberg: Tändeleyen. Stuttgart 1966, S. 18-21.
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