Der deutsche Michel beim Fortschritt

[144] Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann!

Der Fortschritt, der nimmt auch gar kein End';

'S ist als ob der liebe Gott die Polizei nicht kennt!


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann!

Mein Hintermann, das ist ein Literat,

Der tritt mir bald die Hacken ab!
[145]

Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann!

Für anderthalb Gulden löst' ich mir 'en Paß;

Nun bin ich kein Sitzbube oder sonst so was.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann!

Am Rhein, am Rhein, am freien, deutschen Rhein,

Da soll die Censur ziemlich milde sein.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

In Cottbus war neulich eine Revolution;

Da hatten sie einen Sergeanten beim Kragen schon!


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Heut sorg' ich nicht für's Völkerwohl,

Sonst wird mir kalt mein Sauerkohl.
[146]

Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Von je ha'n die Fürsten unser Vaterland beglückt;

Wär' nur das Volk nicht so sehr gedrückt!


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

In Grüneberg, da wächst ein herrlicher Wein!

Nur schad', er soll ein Bischen sehr sauer sein.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Ich glaub' nicht, daß Amerika Republik bleibt,

Weil die Preußische Zeitung dagegen schreibt.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Na, Gottlieb, nur keine Constitution!

Das Unglück sehn wir an Frankreich schon.
[147]

Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Da ist kein Minister den Kammern nicht recht:

Bei uns bleiben sie, sind sie noch so schlecht.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Meinen Schwager, den haß' ich seit Jahren schon,

Der bekennt sich zu einer andern Confession!


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

In Sachsen die Regierung viel Gutes thut,

Und die preuß'sche Regierung ist auch sehr gut.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Seitdem unser Reich die Preßfreiheit verlor,

Schreiben wir uns Alles hinter's Ohr.
[148]

Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Kaiser Franz hinterließ dem Kronprinz kein Geld,

Weil der das Geschäft in Händen hält.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

In Oestreich, da wählen sie sehr passend die Livrei:

Da ist eine gräuliche Polizei.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Da ist das Leben auch gar nicht genant,

Da lassen sich die Vornehmsten drücken die Hand.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Im Volkstone spricht da Jung und Alt;

Selbst der Metternich und der Kaiser sagen: Halt!
[149]

Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Die Demagogen, die sind nicht recht klug;

Die Festungen sind ja schon voll genug!


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Im Ausland laß' ich mich bloß Herr titulirn,

Daß sie in mir den Deutschen nicht gleich spürn.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Wenn wir die Steuern nicht mehr zahl'n,

So könn'n wir uns einen König mal'n!


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Mein Junge, der muß mir Alles studirn,

Sollt er dabei den Verstand auch verliern!
[150]

Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Es freut mich, daß Allerhöchstihre Majestät,

Der König beim Fortschritt mit uns geht!


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der deutsche Michel nachkommen kann.

Denn wenn ein König uns nicht commandirt,

Dann werden wir nicht gehörig angeführt.


Immer langsam voran! Immer langsam voran,

Daß der Michel beim Fortschritt nachkommen kann!

Quelle:
Adolf Glassbrenner: Verbotene Lieder, Bern 1844, S. 144-151.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon