An Herrn***

[194] Ja, Freund, der Wein, der Wein giebt uns Verstand!

Das lehrt Hippokrates,

Konfucius und Aristoteles,

Und, der sich einen Gott erfand,

Der große Sokrates!


Demokritus, der Rabner seiner Zeit,

Der weiße Lacher goß

Ein Gläschen Wein auf einer Lais Schoß,

Und sahe Leer' und Nichtigkeit,

Und lachte darauf los.


Heraklitus, der Meister ohne Zucht,1

Der dunkle2 Sauertopf,

Goß keinen Wein in seinen kalten Kropf,

Er war ein Bauch voll Wassersucht,3

Ein Klumpen ohne Kopf!
[194]

Diogenes, der Menschensucher,4 trank

Zehn volle Fässer aus,

Und baute sich ein Weingeruchig Haus,

In welchem er den größten Held bezwang,

Und seinen Sarg daraus!


Umsonst such' ich mit Müh' und Ungemach

Die Wahrheit ohne Wein;

Ein weiser Mann, o Freund! wie du, zu sein,

Müßt ich betrunken Einen Tag,

Und zwanzig nüchtern sein!

Fußnoten

1 Er war ein ἀντοδιδακτος.


2 Sein Buch von der Natur verstand selbst Sokrates nur halb. Was ich davon begriffen habe, sagte dieser Weise, scheint mir sehr gut zu sein; vermutlich ist es auch das, was ich nicht verstehe.


3 Seinen Ärzten that er die Frage: Wißt ihr einen regnichten Himmel heiter zu machen? Daraus sollten sie schließen, er sei wassersüchtig.


4 Sensit Alexander, testa cum vidit in illa

Magnum habitatorem, quanto felicior hic, qui

Nil cuperet, quam, qui totum sibi posceret orbem.


Sagt Juvenal.
[195]

Quelle:
Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Gedichte, Stuttgart 1969.
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