Die Nachtigall bei Leipzig

[215] Ihr kennt doch wohl das Rosenthal1

Bei Leipzig? Nun! da baut' einmal

Ein Nachtigallenpaar ein Nest und heckte.

Indeß die Sie bald auf der Wache stand,

Bald ihre Brut vor Wind und Regen deckte,

Flog Er umher nach Proviant.

So bracht' ihn einst sein Morgenflug

In die Allee von Leipzig's Linden;

Entzückt, ein Publikum zu finden,

Das nett geputzt und schön frisirt sich trug,

Setzt' er sogleich sich hin, und schlug

Beim Bravo! seiner Auditoren,

Bis sie von selbst am Abend sich verloren.[216]

Nun ward sein Durst und Hunger wach;

Allein zu spät ging er der Nahrung nach,

Die Finsterniß entzog sie seinem Blick,

Und kaum fand er sich noch ins Rosenthal zurück.

Hier klagt' ihr Leid sein Weibchen stillen Hainen,

Und sprang betrübt am Nest' herum.

Vor Hunger kamen ihre Kleinen,

Indeß die Herren Bravo! riefen, um.

O Dichter, und o Publikum!

Fußnoten

1 Ein Lustwäldchen, nahe an der Stadt.


Quelle:
Leopold Friedrich Günther von Goeckingk: Gedichte. Teil 1–4, Teil 3, Frankfurt a.M. 1821, S. 215-217.
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