[366] Wir sind am Schluß unsers Buches – noch ein Mal rollt der Vorhang auf, Dir flüchtig die blutigsten Bilder zu zeigen; – dann, Leser, scheiden wir! –
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Der Sturm am 6. Juni hatte nicht blos die Lünette Kamtschatka – den Mamelon – sondern auch die beiden andern vorgeschobenen Werke, die Selenginski- und Vohlinski-Redoute nach einem heftigen Kampf und Blutbad in die Hände der Franzosen gebracht. Sie verloren an 3000 Mann, darunter den General Lavarande, die Russen nicht viel weniger mit dem General-Major Timotjef. Die beiden Redouten wurden gesprengt, der Mamelon unter dem Namen Brancion-Redoute zu einer Batterie gegen den Malachof umgewandelt. Bosquets Lorbeeren ärgerten jedoch General Pelissier und er entfernte ihn daher vor dem beabsichtigten großen Sturm, indem er ihm den Ober-Befehl der Tschernaja-Linie übertrug.
Man schien absichtlich den Jahrestag der napoleonischen Erinnerungen zu wählen, selbst der traurigen, und da zum 14. – dem Tag der Schlacht von Marengo – die Vorbereitungen nicht vollendet werden konnten, wählte man den 18. – den Tag von Waterloo – zum Sturm auf den Malachof, um den Engländern zu zeigen, daß man zu siegen verstehe. Aber das Schicksal hatte es anders bestimmt. Die Divisionen Mayran, Brünet und d'Autemarre – das Bosquet'sche Corps war zum großen Nachtheil für den Erfolg durch die Eifersucht Pelissier's getrennt – mit der Garde sollten den Malachof, die Engländer den Redan angreifen, nachdem am Morgen des 17. auf der ganzen Belagerungslinie ein heftiges Bombardement eröffnet worden, während dessen 20,000 Kugeln und 10,000 Bomben von den Franzosen auf die Festung geworfen wurden.
Aber die Russen waren auf den Angriff vorbereitet und, wie heldenmüthig auch der Ansturm der Franzosen war, die zwei Mal bis in das Werk drangen und sich in der Vorstadt festsetzten, sie[367] wurden mit furchtbarem Verlust geworfen, da sie ohne Unterstützung durch die Engländer blieben, deren Angriff vollkommen verunglückte. General Mayran fiel, Brünet wurde durch die Brust geschossen, fast sämtliche Regiments-Commandeure waren verwundet, die Franzosen verloren als kampfunfähig gegen 6000 Mann, die Engländer an 2000; auch der russische Verlust betrug 5000. An einzelnen Stellen um den Malachof lagen die französischen Leichen vier Ellen hoch übereinander; die Bedienungsmannschaften der Geschütze im Malachof hatten drei Mal ersetzt werden müssen; von der Compagnie des tapfern Szewski-Regiments, welche die Batterie Gervais vertheidigt, waren noch 35 Mann am Leben. – Entsetzlich waren die Scenen, die sich bei dem von den Alliirten begehrten Waffenstillstand zur Beerdigung ihrer Leichen zeigten. Die Geier hatten sich auf dem Schlachtfelde bereits gesammelt; ein Augenzeuge berichtet, daß er auf dem Wahlplatz einen englischen Offizier fand, der, tödtlich getroffen, noch Kraft genug hatte, in der krampfhaft geballten Faust einen Vogel zu erwürgen, der an ihm zu nagen begann.
Mit dem verunglückten Sturm auf den Malachof trat gewissermaßen eine Pause in der Heftigkeit des Kampfes ein; man begnügte sich, die Belagerungsarbeiten fortzusetzen, mit der Sappe immer näher und näher an die Festungswerke heran zu dringen und den Kreis der Trancheen enger zu schließen. Die Länge derselben betrug zu dieser Zeit bereits 17 Stunden; 85 französische Batterieen waren errichtet, freilich nicht ohne den bedeutendsten Verlust, denn der Bau der einzigen Batterie Nr. 22 mit nur 3 Geschützen kostete allein 865 Mann. Der Minenkrieg begann gegenseitig jetzt nach allen Richtungen zu spielen, auf russischer Seite von dem Stabs-Capitain Melnikoff geleitet, der in Totlebens Stelle trat, als dieser zu Anfang Juli am Fuß verwundet wurde und gegen Ende August, noch nicht geheilt, doch wieder in den Werken erschienen auf's Neue erkrankte, und auf Befehl des Fürsten Gortschakoff nach Symferopol gebracht wurde. Mit welcher Aufopferung die Soldaten an dem berühmten Schöpfer der Vertheidigung von Sebastopol hingen, beweist der Zug, daß, als während des Sturmes vom 18. auf den Malachof eine 7 Pud schwere Bombe gerade neben dem General niederfiel und der Luftdruck ihn ohnmächtig zu Boden warf, sechs Soldaten herbeisprangen und ihn mit ihren Körpern deckten. Fünf wurden augenblicklich getödtet, der sechste schwer verwundet, während Totleben damals mit einer leichten Contusion davonkam.
Am 11. Juli, Abends 8 Uhr, fiel der Dritte des Heldenkleeblatts der russischen Admiräle: Nachimoff, als er von der Brustwehr des Malachof die Feinde recognoscirte. Wie an Lord Raglan's Begräbniß, der am 28. Juni an der Cholera gestorben, die Russen ihre sämtlichen Geschütze schweigen ließen, so ehrten die Franzosen mit gleicher stummer Huldigung das Andenken des tapfern[368] Gegners. Sechszehn Stunden hatte er nach seiner Verwundung in den Kopf noch gelebt; als er sein Ende fühlte, wandte er sich zu den Matrosen der 39. Tschernanor'schen Flottenequipage, die ihn schluchzend umringten mit den Worten: »Kinder, vergeßt nicht, das Kreuz (die Kriegsflagge) vor dem Feind wie bei Sinope an den großen Mast zu heften!« Sein Tod machte auf die ganze Besatzung den tiefsten Eindruck und stimmte sie zu verzweifeltem Muth. Als der Sarg in die Gruft der Wladimir-Kathedrale sank, schwor General Chruleff: »Dein Denkmal, braver Seemann, soll Berge feindlicher Leichen werden!« und: Da budet tak! (So soll es sein!) rollte durch die beiwohnenden Regimenter.
Die Zahl der tapfern Seeleute in der Festung war gewaltig geschmolzen, obschon am Tage vor dem Sturm 2000 Matrosen der vernichteten Flotte des Azow'schen Meeres eingerückt waren. Von den 36 Marine-Offizieren, welche bei Beginn der Belagerung die Batterieen kommandirten, war noch Einer kampffähig. Aber Begeisterung und fester Todesmuth erfüllte Offiziere wie Soldaten. Am 8. Juli weihte der Erzbischof von Cherson und Taurien, Innocenz, auf dem Catharinen-Platz die versammelten Truppen und reichte ihnen das Abendmahl. Sie schworen, auf ihrem Posten zu sterben. Im Laufe des Juli trafen die 7. und 15. Infanterie-Division in Ssewastopol ein, zu Anfang August aus Polen die 2. und 3. Division des berühmten Grenadier-Corps, so daß die russische Armee der Krimm trotz aller Verluste zu Anfang September wieder 160,000 Mann zählte. Fünfunddreißigtausend Arbeiter waren allnächtlich mit der Ausbesserung der Schäden beschäftigt, welche die Kanonade des Tages an den Wällen verübt, oder errichteten neue Vertheidigungswerke. Fortwährend suchten die Belagerten durch kleinere und größere Ausfälle die Arbeiten des Feindes aufzuhalten, die bedeutendsten erfolgten in der Nacht zum 25. Juli, 2. und 15. August. Am 28. verursachte eine russische Bombe im Mamelon eine furchtbare Explosion, die an 200 Mann tödtete und verstümmelte.
Auch die Verluste der Alliirten waren entsetzlich. Bis zum Juni hatten die Franzosen bereits 80,000 Mann durch Krankheit und Wunden vor Sebastopol eingebüßt, die englische Armee war zwei Mal fast vollständig erneut worden. Von den Anfang Mai eingetroffenen 15,000 Sardiniern waren nur noch 8000 kampffähig, 2000 schon bis zum 1. August an der Cholera gestorben. Die Miasmen, die sich aus den Leichenfeldern und aus der versumpfenden Tschernaja entwickelten, verbreiteten, im Verein mit dem acuten Wechsel der Witterung – während des Tages oft 31–34° Wärme, des Nachts kaum 3–4° – Seuchen, nachdem die Cholera im August nachgelassen, den Typhus und Scorbut in desto größerer Heftigkeit. Es wurden während des Monats täglich 6–800 Kranke auf den Schiffen in die Spitäler am Bosporus transportirt. Durch das Feuer der Russen, die durchschnittlich[369] in 24 Stunden 4000 Schüsse thaten und 600 Bomben warfen, war der Verlust in den Laufgräben, je mehr sie sich den Werken näherten, desto entsetzlicher.
Die Stimmung, die sich ziemlich offenkundig in der Armee kund gab, ließ nicht frei von Besorgnissen. Offiziere und Soldaten sahen sich nutzlos decimirt und als Beute von Krankheiten und Anstrengungen. Die täglichen Verluste in den Laufgräben, während mit jedem Morgen neue russische Werke aus der Erde zu wachsen schienen, ermatteten auch den Stärksten. Die Garden selbst schickten Deputationen an den Generalissimus mit der Bitte, ihr allzu auszeichnendes Lederzeug ablegen zu dürfen, und General Reynault forderte gleich heftig ihre größere Schonung, wie man früher auf ihre Theilnahme am Dienst bestanden; man verlangte mit dem Muth der Verzweiflung nach einem neuen allgemeinen Sturm, um zu sterben oder zu siegen, denn Allen graute vor einer nochmaligen Überwinterung und schwerlich hätte man sich dieser gefügt. Als auch der Napoleonstag, der 15. August, ohne den gehofften Sturm vorübergegangen war, kamen mehrmals Fälle der offenen Renitenz vor, wenn die Regimenter zum Laufgrabendienst beordert wurden. Dazu zeigten sich wieder häufig unter allerlei Verkleidungen Emissaire der revolutionairen Propaganda im Lager und begannen ihre Wühlereien. General Pelissier verkannte die Gefahr nicht und ergriff verschiedene Maßregeln, um die Äußerungen des Mißvergnügens zu unterdrücken, da er zu gut einsah, daß er nicht Alles auf einen letzten entscheidenden Wurf setzen durfte, ohne dessen Erfolg möglichst gesichert zu sehen. Die erste Maßregel war die Ausweisung der französischen Correspondenten, selbst der officiellen Journale, die der Generalissimus am 14. Juli auf ein Schiff packen und nach Constantinopel bringen ließ; – freilich blieben die weit ungenirteren englischen zurück! In Kamiesch wurde eine förmliche Militair-Censur-Commission eingesetzt, welche alle abgehenden Briefe controllirte und jede Klage unterdrückte. Hierauf folgte die Entfernung Canrobert's, der, so oft er sich zeigte, der Gegenstand von Ovationen der Soldaten war. Der General inspicirte – es war am 26. Juli – gerade die Laufgräben, als Pelissier ihm in Abschrift eine Stelle aus der Depesche des Kriegsministers zugehen ließ, wodurch der Kaiser ihn, im Interesse seiner Gesundheit, zur Rückkehr aufforderte. Canrobert antwortete auf der Stelle, daß er sich nur einem ausdrücklichen Befehl fügen werde, und schon am 29. war dieser durch den Telegraphen da. Der General verließ am 4. August die Krimm, von seinem glücklichern Rivalen wenigstens beim Scheiden noch mit allen Ehren umgeben.
Schon lange vorher, ehe dies geschah, hatten die Belagerer einen neuen Angriff der russischen Armee von der Tschernaja her erwartet und vollkommen Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten und ihre Stellung zu befestigen. Er erfolgte am Morgen des 16. August – bekannt unter dem Namen der Tschernaja-Schlacht,[370] oder der Schlacht an der Traktir-Brücke. Die Russen stiegen unter den ungünstigsten Verhältnissen aus ihrer gedeckten Stellung in das Tschernaja-Thal nieder, überschritten den Fluß und gingen die gegenüber liegenden wohlbefestigten Höhen hinan, zuerst die Türken und die verschanzten Sardinier angreifend. Bald aber ließ sich, gegen die ausdrückliche Disposition des Oberbefehlshabers, General Read von seinem Ungestüm fortreißen, mit dem rechten Flügel die gesicherte überlegene Stellung der Franzosen an den Fedhujini-Bergen zu stürmen und hier die Schlacht zu engagiren. Drei Mal gewannen die Russen die Höhen, drei Mal wurden sie von Bajonnet und Kartätschen zurück geworfen, und der Tod mähte in ihren Reihen. General Read büßte seine Verwegenheit mit dem Leben – vier Stürme der Freiwilligen, um seine Leiche zu holen, warfen die französischen Kartätschen nieder; General-Major Weymarn, sein General-Stabs-Chef fiel – auf dem Rücken trug sein Adjutant, der gigantische Lieutenant Stolypine, den Körper des geliebten Führers aus dem Getümmel; an der Seite des russischen Generalissimus wurde General Wrewski getödtet, nachdem er, zwei Mal schon getroffen, verweigert hatte, sich zurückzuziehen. Nutzlos, vergeblich opferten die tapfern Grenadiere immer und immer wieder ihr Leben, bis General Kotzebue, die Unmöglichkeit des Gelingens, das Zwecklose des Blutbades erkennend, vom Pferde sprang und auf dem Sattel die Ordre zum Rückzug an die engagirten Divisions-Chefs schrieb. Eine Granate schlug neben ihm nieder und platzte, während sich die Umgebung eilig zurückgezogen, ihn mit einer Wolke von Staub und Splittern bedeckend. Als sie sich verzogen, sah man den General ruhig fortschreiben und erst, nachdem er geendet, das Blut von der Stirn trocknen.
Weit über 3000 Russen, 1100 Franzosen, an 900 Türken und 200 Sardinier deckten den Kampfplatz, das Flußbett war gefüllt mit Leichen. Die Sardinier verloren den General Montevecchio, auch von den französischen Führern waren viele verwundet, darunter der tapfere Oberst der dritten Zuaven, Polkes. – Auf die Belagerung selbst hatte die Schlacht keinen Einfluß.
Dagegen vermehrte sie die Spaltung zwischen den französischen und englischen Truppen, die schon nach dem Sturm am 18. Juni, dessen Mißlingen man den Engländern geradezu Schuld gab, bedeutend hervorgetreten war und sich in Übermuth und Verhöhnungen auf Seiten der Franzosen offen kund gab. Die Erbitterung brach in hundert Zügen aus, als die englischen Soldaten das Tschernaja-Schlachtfeld, das nicht ihr Blut gekostet, auf eine so schaamlose Weise plünderten, daß 6 Stunden nach beendigtem Kampf nur die nackten Leichen noch dort lagen und General Simpson selbst in einem Tagesbefehl vom 20. seinen Truppen ihr Benehmen vorwarf. Man mußte zuletzt den französischen und englischen Soldaten verbieten, dieselben Schankboutiken zu besuchen.
Am 17. August ließ General Pelissier das Feuer auf's Neue[371] verstärken; während der zweiten Hälfte des Monats wurde in Kamiesch Tag und Nacht Munition ausgeladen und nach den Batterieen gebracht. Fortwährend trafen neue Verstärkungen ein, am 24. General Mac-Mahon, der geprüfte Afrikaner, 1840 noch Bataillons-Commandant der Vincenner Jäger, dann Oberst in Algerien, wo er sich, um sich vor dem Herzog von Orleans auszuzeichnen, auf einem Zug gegen die Kabylen an der Spitze seines Regiments auf den drei Mal stärkern Feind warf, sein rechtes Auge verlor, aber zum General ernannt wurde. Er trat an Canrobert's Stelle.
Die Zeit eilte – und der dem General Pelissier im Geheimen gesetzte Termin nahte heran; Depesche auf Depesche brachte der Telegraph und der hitzige, durch die nicht erfüllte Hoffnung auf den Marschallsstab am 15. August erbitterte General sandte die berüchtigte Antwort: »Sire, wenn Sie glauben, es besser machen zu können, so kommen Sie selbst!«
In den ersten Tagen des September endlich war man mit der Sappe so weit vorgedrungen, daß die Spitze der französischen Trancheen nur noch 30 Metres (90 Fuß) von den Werken des Malachof entfernt war; schon mehrere Tage konnten sich die Gegner sprechen hören. Der allgemeine Sturm wurde beschlossen.
Am 5. September begann die letzte allgemeine Kanonade, bestimmt, die Bastionen, – schon längst kaum mehr als ein Schutthaufen – vollends zusammen zu schmettern. Sechshundert französische und 200 englische Feuerschlünde größten Kalibers eröffneten ein Feuer, welches die Erde ringsum erbeben ließ und selbst in der Entfernung einer Viertelmeile nur in den Pausen gestattete, sich anders, als durch Zeichen verständlich zu machen.
Die Festung antwortete in gleicher Weise, obschon an vielen Stellen die Trancheen der Gegner so weit vorgedrungen waren, daß sie unter dem Niveau der Geschütze lagen. Die Zerstörung im Innern war furchtbar. Die Erde innerhalb der Werke und um sie her war von Kugeln so aufgepflügt, daß nicht ein Sandkörnchen an seinem Orte geblieben, sie war mit Flintenkugeln, Kartätschen, Granatensplittern, Kanonenkugeln und Bomben vollständig bedeckt. Wir führen beispielsweise bloß die Thatsache an, daß vom 22. Mai bis 10. Juni die russischen Soldaten und Matrosen auf der ganzen Vertheidigungslinie an Blei von feindlichen Kugeln 1960 Pud (78,400 Pfund) und 1015 achtzigpfündige, nicht geplatzte Bomben sammelten, aber das machte kaum ein Drittel, da zwei Drittel im Wall oder in den Mauern stecken blieben und nach der Stadt und den Buchten hinüber flogen. Schon im Mai waren gegen 500 Häuser von Grund aus zerstört, selbst das Straßenpflaster aufgewühlt. Ende August waren nur wenige Gebäude bewohnbar, die Lazarethe und alle Büreau's nach Fort Paul und Fort Nicolaus verlegt. In dem letztern wohnte der Commandant Kismer mit mehr als 20,000 Menschen. Der Bericht[372] Pelissier's giebt an, daß während der 336 Tage der Belagerung über 1 Million 600,000 Schüsse aus 800 Feuerschlünden, also durchschnittlich täglich 4434 Schüsse auf die Stadt geschehen. Die Vertheidigungswerke waren sämtlich so zu Staub zermalmt, daß die Erdarbeiten kaum noch auszubessern waren, und Fürst Gortschakoff, – nachdem bereits am 5. und 6. August eine Pontonbrücke über den Handels- und Kriegshafen zur bessern Verbindung der beiden Stadtseiten geschlagen worden, – für den Rückzug nach der Sievernaja (der Nordseite) eine Brücke über die Bucht zu schlagen beschloß. General Buchmeier, der Chef der Ingenieure, führte, unter dem Kugelregen der Feinde, mit Hilfe des Contre-Admirals Suckow und Oberst Narew dies Riesenwerk in 15 Tagen aus, und die schwimmende Balkenbrücke von 1500 Schritt Länge und 9 Schritt Breite, zwischen den Forts Nicolaus und Michael die Ufer verbindend, wurde am 27. August eingeweiht. In der Nacht zum 6. August ward das erste russische Linienschiff, die »Mariam« durch die Bomben der Alliirten in Brand geschossen.
Es ist eine entsetzliche Thatsache, daß in den letzten neun Tagen dem Bombardement und den Krankheiten täglich viertausend Mann in der Festung zum Opfer fielen!
Während die Franzosen und Engländer so ihre Vorbereitungen zur Entscheidung des Kampfes trafen, sahen die Türken immer mehr ein, welch überflüssige Rolle sie in der Krimm spielten und Omer-Pascha traf, schwer erbittert über die erfahrenen Zurücksetzungen, am 18. Juli in Constantinopel ein, den Sultan für eine Verlegung des Kampfplatzes zu gewinnen. Seine Pläne wurden jedoch hintertrieben und Mitte August Iskender-Bey, jetzt Iskender-Pascha (Graf Ilinski), der bei Eupatoria von dem russischen Oberstlieutenant Wimmer mit schweren Säbelhieben verwundet worden, mit der Cavallerie, gegen Ende des Monats der Serdar selbst mit dem größten Theil der Infanterie nach Klein-Asien geschickt zum Entsatz von Kars, das von General Murawieff und den Fürsten Andronikoff und Bebutoff schwer bedrängt war. Die Stelle der türkischen Truppen in Eupatoria nahmen die englisch-türkischen Baschi-Bozuks ein, welche durch die offene Empörung am 7. Juli in Dardanelli und ihre dort verübten Greuelthaten eine Probe von der Organisation geliefert, die ihnen General Beatson – bei dem Aufruhr verwundet – und Vivian beigebracht hatten. In Constantinopel selbst war Ende August Mehemed-Ali wieder zum Kapudan-Pascha ernannt worden und die alttürkische Partei auf's Neue an's Ruder gekommen. Der Hat-Humayum, diese großmüthige Erwerbung der alliirten Mächte zu Gunsten der christlichen Bevölkerung, an die Stelle des Tansimats und der Forderungen Rußlands gesetzt, blieb ein Spiel in den Händen der fanatischen Pascha's und ohne alle Wirkung.[373]
Die Folgen der Trennung der Bosquet'schen Divisionen waren bei dem Sturm am 18. Juni zu klar hervorgetreten, als daß der Generalissimus für die Erreichung des Hauptzweckes nicht jede kleinliche Rivalität hätte aufgeben sollen. General Bosquet war mit seinem Corps nach der Tschernaja-Schlacht wieder in die Belagerungs-Linien eingerückt, und das 3. Zuaven-Regiment, jetzt kommandirt von Colonel Méricourt, hatte sein früheres Lager am Sapun wieder bezogen.
Der alte polnische Oberst hatte das Feldlager nicht wieder verlassen, obschon er nach jener traurigen Täuschung jede weitere Hoffnung und Bemühung aufgegeben, das Schicksal seines Enkels lenken zu können. Die Theilnahme, die Méricourt diesem bewiesen, hatte ihn häufig in seine Gesellschaft gezogen, bis der Colonel ihm eine frei gewordene Baracke auf dem Sapun anbot. Er bezog sie zusammen mit dem von Constantinopel zurückgekehrten Baronet. Die beiden trüben und wortkargen Gefährten paßten gut zu einander. –
Es war am Mittag des 7. September, als der alte Propagandist allein in der Hütte saß, auf einer umgestülpten Tonne schreibend und von Zeit zu Zeit mit traurigen Gedankenbildern auf den Donner hörend, der, Luft und Erde erschütternd, von den Wällen und Batterieen herauf rollte. Den Eingang verdunkelte eine Gestalt und aufblickend gewahrte er einen der Armenier, die als Handelsleute das Lager durchstreiften. Unwillig, gestört zu werden, winkte der Oberst ihm, fortzugehen, der Fremde legte jedoch zu seinem Erstaunen den Packen von sich und setzte sich ihm gegenüber auf eine Kiste, nachdem er sich vorsichtig umgesehen.
»Der Lärmen, den die Kanonen dieser Soldateska machen,« sagte der Eindringling in italienischer Sprache, »sichert uns wenigstens gegen das Behorchen. Ist meine Verkleidung wirklich so trefflich, daß ich erst dieses Zeichens bedarf?« – Er bog den Mittelfinger der linken Hand ein und streckte sie gegen den Polen.
»Abbé Cavelli?« rief dieser mit Staunen.
»Still, lieber Graf – keine Namen! Sie könnten mich eben so gut den Banquier Thomas, den Lord So und So und wer weiß wie nennen, gegenwärtig bin ich der Handelsmann Basil Aristarchi, wohlbekannt auf dem Bazar von Constantinopel, und es genügt, daß Sie über meine Person im Klaren sind. Wir sind doch sicher hier?«
»Ich erwarte keinen Besuch, Signor. Doch muß ich Sie auf Eines aufmerksam machen – ich habe seit dem 28. April aufgehört, Mitglied des Bundes zu sein und ...«
»Der höchsten Gewalt Ihren Rücktritt zugleich mit der Warnung mitgetheilt, die der Kaiser Napoleon so gütig war, uns zukommen zu lassen. Ich weiß das Alles und noch mehr, aber Sie werden sich erinnern, lieber Graf, daß, wenn man nach unsern Statuten auch berechtigt ist, die Function als thätiges Mitglied[374] des Rathes der Sieben niederzulegen – man doch nicht aufhört, ein Wissender und Gehorchender zu bleiben; – der Eid des Eintritts gilt für das Leben, und ich hoffe, daß Graf Lubomirski ihn nicht brechen wird, wie ihn Andere in diesem Lager gebrochen haben.«
Der Greis blickte ihn erstaunt an. – »Sie kannten meine Stellung, Signor? ich glaubte Sie blos Mitglied des fünften Grades?«
»Ei, man schreitet vorwärts, Oberst, und wer weiß, was aus dieser unscheinbaren Hülle des Armeniers noch hervorgeht,« spottete der Italiener. – »Doch, unsere Augenblicke sind gezählt. Ihre Dienste, Signor Conte, hatten Sie zu einem so hervorragenden Mitglied des Rathes der Sieben gemacht, daß man Ihre Thätigkeit und Ihre Erfahrung schwer vermißt. Ich komme mit dem Auftrag, Sie um den Wiedereintritt in den Rath zu bitten.«
»Mein Entschluß steht fest,« sagte der Andere. »Ich habe das Recht, wie Sie selbst zugestehen, alle Thätigkeit aufzugeben und ein Wissender zu bleiben, da der Grad, den ich eingenommen, nicht mehr gestattet, mich ganz aus der Gemeinschaft des Bundes zu entlassen. Ich bin ein Greis – meine Kraft ist durch Manches, was Sie nicht interessirt, gebrochen, ich kann nicht mehr nützen und – gerade heraus, ich will es nicht. Die Erinnerungen meiner Jugend sind mächtig in mir erwacht – ich mag nicht weiter kämpfen weder gegen das Haus Bonaparte, noch gegen das Haus Romanow!«
Der Italiener lächelte verächtlich. – »Ich kann nicht glauben, daß Alter die Nerven wirklich so verwelkt, um Geist und Kraft zu lähmen. Das Beispiel der Diplomatie zeigt, daß dem nicht so ist. Talleyrand hatte – Nesselrode und Metternich haben trotz ihres hohen Alters ihren Geist bewahrt.«
»Signor Abbé,« sagte der Pole, »Sie sind im Verhältniß zu mir jung, vor Ihnen liegt noch die Welt; – ich weiß nicht, welche Stellung Sie haben, denn Sie sind ein Geheimniß auch für mich – aber ich will Ihnen eine Erfahrung sagen, einen Rath geben. Die schärfsten Pläne des menschlichen Hirns brechen oft an der Schwäche der menschlichen Herzen. Nicht das Alter allein ändert die Menschen, jeder trägt seine Stelle im Innern, nennen Sie sie Grundsätze, Laster oder Gefühl, – wo er Egoist bleibt. Darum müssen Sie mit den Menschen, welche die Mittel zur Ausführung der festen Pläne sind, wechseln, wie Gott mit den Geschlechtern der Menschen wechselt. Daß sie diesen Egoismus, diesen Punkt, an welchem die Willfährigkeit aufhört, nicht achteten, sondern ihn unterdrückten, zwangen, das war der Fehler der größten Verbindung, der größten Verschwörer aller Jahrhunderte: der Jesuiten.«
Der Abbé schaute ihn nachdenkend an. – »Der Rath hat sein Wahres! wir haben in letzter Zeit dahin zielende Erfahrungen gemacht. Die Agenten zum Beispiel, welche im März 53 von der[375] damaligen Versammlung ausgesandt wurden, sind fast sämtlich ihrer besondern Interessen und Ansichten wegen aus unsern Reihen desertirt. Der Banquier Ripièra wurde ein Verräther aus Furcht und Habsucht, die spanische Tänzerin machten Eitelkeit und Blut ungehorsam und zur Maitresse eines Russen, Ihnen, Signor Conte, galt das Leben eines Knaben mehr als die Zukunft der Propaganda, den deutschen Arzt hat ein allzu zartes Gewissen gerührt und von den beiden Arbeitern hat den Einen seine Ungeschicklichkeit auf das Schaffot gebracht, den Andern sein thörichter Begriff von Familienehre zum enthusiastischen Soldaten gemacht.«
Der Graf schwieg.
»Ich komme so eben von einem Andern unserer Freunde,« fuhr der Abbé spöttisch fort, – »ich habe General Pisani's Beichte gehört, ein Geschäft, das ich natürlich besser verrichten konnte, als jeder Andere. Ihn hat der Ehrgeiz und der Reichthum, wenn auch nicht abtrünnig, doch seine eigenen Pläne vorziehen gemacht, – jetzt muß er Beides verlassen, den neuen Rang und den Reichthum seiner Frau. Wenigstens ist er Teufel genug, die Letztere mit sich zu nehmen! – Sie haben Recht, Signor Conte, man muß die Werkzeuge nur so lange benutzen, als ihre eigenen Interessen nicht mit den unsern collidiren!«
»Signor,« sagte der alte Mann entschlossen, »das sind Gespräche, die uns nicht zum Ziel führen. In welcher Absicht haben Sie mich aufgesucht?«
Der Abbe sah ihn scharf an. – »Ich erwähnte bereits, Signor Conte, daß ich den Auftrag hätte, Sie zu uns zurückzuführen.«
»Und ich erklärte Ihnen, daß ich mich von jedem thätigen Antheil zurückgezogen habe.«
»Ist dieser Entschluß unwiderruflich?«
»Er ist es.«
»Auch dann, wenn ich den Auftrag habe, Ihnen dies zu bieten?« – Er übergab ihm eines der mehrerwähnten Kreuze – es zeigte neun Silberstifte. Der Pole zuckte zusammen und sah ihn erstaunt an. – »Sie – mit welchem Recht – das Zeichen der höchsten Gewalt?«
»Ich muß das Recht wohl haben, da ich Ihnen den Eintritt anbiete. Die Leiter der Unsichtbaren wünschen Sie in ihrer Mitte zu wissen – um Ihres Vaterlandes willen und da sich mächtige Dinge vorbereiten.«
Der Pole schüttelte das greise Haupt. – »Mir scheint es, Signor, der Bund thäte besser, günstigere Zeiten abzuwarten – der Kampf mit den Dynastieen ist nicht zu seinen Gunsten ausgefallen. Der Kaiser Napoleon –«
»Hat morgen zu regieren aufgehört. Was Pianori verfehlt, wird Bellamare treffen. Wenn jener Mann heute, morgen oder übermorgen das Theater besucht, wird ein neuer Versuch auf sein[376] verfluchtes Leben gemacht werden, sein Glück wird ihn nicht immer schützen!«
»Meuchelmord – immer und immer wieder – und glauben Sie dadurch die verlorene Schlacht zu gewinnen? Er wird unsere Sache vollends verderben.«
»Die Revolution, Signor Conte, wird nie mehr in Europa unterliegen, so lange sie nur den Muth hat, zu kämpfen, und so lange England seine Mission begreift, uns zu schützen! Meinten Sie wirklich, die Drohung dieses Emporkömmlings könne uns einschüchtern? Er ist es, der uns fürchtet; dies Coquettiren schon mit der Demokratie, wie jene Rede seines Vertreters in der Ausstellung zeigt es. Wir sind ihm den Prozeß gegen die 150 Mitglieder der Marianne, die im März verhaftet und am 31. Juli im Saal des pas perdus verurtheilt wurden und Dheniers Verdammung in Lille1 schuldig! Aber selbst, wenn sein Stern ihn nochmals beschützen sollte, sind die Chancen in ganz Europa der Art, daß sie unsere erneute Thätigkeit fordern.«
»Verzeihen Sie, Signor,« sagte gemessen der Graf, »ich bin ein Wenig aus der Kenntniß gekommen.«
»Es ist nöthig, daß Sie von unsern Aussichten unterrichtet sind. Daß zwei wichtige Mitglieder des Bundes gestorben sind, wissen Sie wahrscheinlich, der Triumvir Marmiani in Athen und General Pepe am 15. August in Turin. Der Nachfolger des Corsen hat zwar seine sogenannte National-Anleihe von 360 Millionen erhalten, aber die Sache ist zu einem Börsen-Geschäft gemacht worden, und von den dreimalhundertundzehntausend Narren, welche das Zehnfache der Millionen zeichneten, sind zwei Drittel Unzufriedene geworden, weil man ihr Geld nicht nahm. Am 27. August sind bereits bedeutende Unruhen in Angers ausgebrochen. Auf die Armee kann sich der Usurpator für seine Pläne nicht stützen, von den 101 Infanterie-Regimentern Frankreichs sind 41 im Orient, 2 in Rom, 112 in Afrika, Paris allein braucht ihrer 10, und es bleiben ihm für die Bedrohung Preußen's und Deutschland's durch das sogenannte Ostlager kaum 120,000 Mann. Eben so wenig wird er die Revolution in Spanien damit niederhalten, wenn die 25,000 Mann Spanier, die sich O'Donnel durch den geheimen Tractat vom 7. August für eine Anleihe von 500 Millionen Francs zu stellen verpflichtet, die Halbinsel verlassen haben. Mißglückt der Sturm auf Sebastopol, wie wahrscheinlich ist, so steht es schlimm mit dem napoleonischen Regiment, denn in der Armee ist die Zahl der Mißvergnügten groß, und ihnen ihr Ziel zu geben, bin ich hier. Das Offizier-Corps des 14. Regiments hat bei dem Abschiedsfest in Rom am 5. August bereits offen seine Empörung gezeigt – man hat es nicht gewagt, es nach dem Orient[377] zu schicken. Napoleon – wenn sein Glück ihn vor Bellamare's Pistole rettet – wird dann von der Armee gezwungen werden, den Krieg hier aufzuheben und ihn an den Pruth, in die russisch-polnischen Provinzen zu verlegen, dahin haben auch Omer-Pascha und Ilinski in Constantinopel agirt. Sckarzinski2, Zsurmanski, Wolawski, Sasit-Bey halten den Sirdar auf diesem Plan fest und England wird das Geld geben zur Bildung zweier Legionen der Türkischen Kosaken, die nur aus Polen und Ungarn bestehen dürfen. Czaikowski leitet die Organisation, das war die Mission des Grafen Zamoiski in England und Frankreich. Mit der Überschreitung des Pruth durch den Serdar oder die Franzosen bricht die Erhebung in ganz Polen aus, Miroslawski und Mak werden sie in dem Preußischen Großherzogthum verbreiten. – Die Leitung der Polnischen Sache soll Ihre Aufgabe sein.«
»Signor,« sagte der Oberst, »meine Berichte aus Polen sollten Sie bereits über diesen Irrthum enttäuscht haben. Die Polen hassen Rußland weniger, als Sie denken. Von all' den Polen, die in der Armee von Sebastopol stehen, sind bis jetzt nur vier in's Lager der Alliirten desertirt, während die Zahl der Deserteure aus den Reihen der Sardinier und der Fremden-Legion bedeutend ist. Wenn Sie keine andere Stütze Ihrer Pläne haben, als eine Revolution in Polen, steht es schlecht mit Ihrer Armee.«
»England wirbt sie für uns, Graf, im Norden wie im Süden. Die Fremdenlegion in Schorncliffe wird, wenn unsere Fahne weht, ihr folgen. Jeder Legionär ist ein Soldat mehr für uns, und das Geld, was das Parlament dafür bewilligt, ist nichts Anderes als ein Beitrag zur Revolution. In der Schweiz sind neue Werbungen im Gange; die Bildung einer italienischen Legion ist beschlossen, General Percy zur Organisation bereits am 17. August in Turin eingetroffen; von Schweden her hat Doctor Rosenschild eine Freischaar gegen Rußland angeboten. Zwischen Sardinien und Frankreich herrscht bereits Spannung, der Papst hat seine Allucation geschleudert, die famose Rede Palmerstons am 10. August über Italien hat den Brand von den Alpen bis zum Cap Passaro3 geschürt, Rom ist in Gährung, unser geheimes Bündniß mit den Müratisten und Miroslawski's Brochüre gegen die Bourbonen über ganz Neapel verbreitet, Pisacane harrt meines Winkes für ganz Unteritalien, die halbe Armee ist sein, und bei dem ersten Anstoß, dem ersten Ruf zur allgemeinen Erhebung, wird mit dem Norden auch der Süden in Flammen stehen und Beide werden sich im Kampf die Hand reichen.«
Der Italiener, von der Leidenschaftlichkeit seiner Natur fortgerissen über die gewöhnliche Vorsicht, schwieg jetzt erschrocken und sah sich scheu um; das halb spöttische, halb traurige Lächeln des[378] Greises beruhigte ihn, nur in der Nähe, in der sich Beide befanden, war es möglich, seine Worte zu verstehen. »Das Alles, Signor,« sagte ruhig und bestimmt der Oberst, »läßt mir zwar über Ihre Person keinen Zweifel mehr, aber es überzeugt mich nur, daß noch ein anderer Grund existirt, weshalb Sie mich aufgesucht und meinen Rücktritt wünschen.«
Ein leichter rother Fleck zeigte sich auf der magern Wange des Revolutionairs – er erkannte, daß die edlere Natur seines Gegners ihn zur Offenheit zwang. »Wohl, Signor,« sagte er, »Sie haben Recht. Wie auch Ihr Entschluß auf mein aufrichtig gemeintes Anerbieten lauten mag, Sie sind mir gleiche Offenheit schuldig, mit der ich Ihnen unsere Pläne enthüllte. Sie sind im Besitz eines Geheimnisses, das den Leitern der Unsichtbaren nöthig ist. Es fehlt ein Glied in unsern Conjecturen, es existirt Etwas, das uns irre macht in unsern Combinationen und das uns bis jetzt verschwiegen blieb. Es ist Etwas in Paris berathen, beschlossen worden, das wir nicht kennen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Sie im Besitz dieses Geheimnisses sind, Ihre Unterredung mit dem Kaiser – Ihre plötzliche Sinnesänderung, Ihr Verweilen hier im Lager, das Ihre Mittheilung über Ihren Enkel nicht mehr genügend erklärt –«
»Und was führt Sie überhaupt zu der Annahme, daß ein solches Geheimniß existirt?«
»Der Mangel jeder Vorbereitung Frankreichs auf den Fall, daß Sebastopol nicht fällt! – Die ausgestreueten Gerüchte einer zweiten Überwinterung, eines neuen Heerlagers bei Constantinopel können nicht bemänteln, daß man gar keine Anstalten dazu getroffen. General Pelissier verzögert es selbst, für einen nothwendigen Fall die Wiedereinschiffung der Armee durch eine stärkere Befestigung von Kamiesch zu sichern, während die Engländer dies aus allen Kräften mit Balaclawa gethan haben. Entweder, Napoleon muß des Falles von Sebastopol sehr sicher sein, oder –«
»Daß er es ist, zeigt sein Brief vom 20. August an die Armee.«
»Was er über die Lage der russischen Streitkräfte und der Festung durch die beiden Spione in Berlin und den Verrath der Briefe aus der Umgebung des Königs von Preußen erfährt, wissen wir auch – aber das genügt nicht, um die Chancen des Kriegsglücks mit Bestimmtheit zu berechnen.«
»Oder –«
»Oder es existirt ein geheimer Pakt – kurz, Sie müssen um das Geheimniß wissen!«
»Ich kenne es!«
»So werden Sie sich erinnern, Graf, daß jede Wissenschaft der Unsichtbaren den Oberhäuptern gehört.«
»Signor,« sagte der Veteran entschlossen, »die Tage, die ich noch zu leben habe, sind gezählt und ich fürchte deshalb die Dolche[379] der Unsichtbaren nicht. Mein Entschluß ist deshalb gefaßt. Die Gewalt, die Sie mir bieten, soll der Preis des Geheimnisses sein, das Sie wünschen. Ich kann ihn nicht annehmen, ich habe Ihnen meine Gründe gesagt. Aber Sie sollen es haben für einen andern Preis – den einzigen, gegen den ich es verkaufe.«
»Lassen Sie hören.«
»Ich schulde dem Kaiser Napoleon ein Leben – das Meine, und eine Güte – meinen Enkel. Geben Sie mir die Erlaubniß, ihn, ohne Sie oder den Thäter zu compromittiren, gegen den Mordversuch zu warnen und versprechen Sie mir, nicht weiter durch Meuchelmörder gegen ihn zu kämpfen, und das Geheimniß ist das Ihre.«
Der Italiener dachte nach. »Schwerlich kann ihn Ihre Warnung noch zu rechter Zeit erreichen – und sie muß ohnehin zu unbestimmt sein, dergleichen werden ihm und seinem Herrn Pietri täglich zugehen.«
»Der Erfolg steht in Gottes Hand!«
»Wohlan, ich will es wagen und verpflichte mich mit meinem Ehrenwort, aber merken Sie wohl – nur auf zwei Jahre!«
Der Greis öffnete seinen Rock und zog unter dem Hemd ein flaches blechernes Kästchen hervor, das an einer Schnur um seinen Hals hing. Er öffnete es und nahm einen im offenen Couvert steckenden Brief heraus, den er entfaltete und vor den Abbé legte, ohne ihn aus den Händen zu geben.
Der Brief enthielt nur die Worte:
»Ich wiederhole den bestimmten Befehl, den Rückzug der russischen Armee von der Südseite Sebastopols in keiner Weise zu gefährden.
Napoleon.«
Der Abbé ließ das Blatt los. »Also ein Tractat zwischen Rußland und Frankreich noch vor Entscheidung des Krieges? Man hat sich geeinigt und die Fortsetzung der Belagerung ist ein bloßes Spiel?«
»So scheint es – ich habe nur versprochen, sobald es Noth thut, von dieser Ordre Gebrauch zu machen.«
Der Italiener schwieg einige Augenblicke. »Die Gewißheit schon,« sagte er dann, »ist wichtig – sie ändert all unsere Pläne im Norden. Leben Sie wohl, mein Herr, ich werde mein Wort halten, nach zwei Jahren werden wir Andere haben, wie wir jetzt Bellamare haben. Leben Sie wohl – Ihres Schweigens wenigstens sind wir sicher.« In der Thür stieß er auf den Vicomte, der eben vom Pferde stieg.
Der Pole empfing seinen jüngern Freund mit sichtlicher Freude. Der Vicomte nahm seine Hand und führte ihn in die Baracke. »Wo ist Sir Edward?«
»Er verließ mich diesen Morgen, ohne bis jetzt zurückgekehrt zu sein. Ist der Beschluß des Kriegsraths ein Geheimniß?«
»Nicht für Sie,« berichtete der Colonel. »Für morgen Mittag[380] 11 Uhr ist der Sturm auf der ganzen Linie bestimmt, mein Regiment wird die Reserve gegen den Malachof bilden.«
»Das Blutbad wird entsetzlich sein.«
»Wir sind gefaßt darauf. Jetzt muß ich meine Vorbereitungen treffen, die strengste Vorsicht ist befohlen, damit es uns gelingt, die Russen zu überraschen. Man ist in den letzten Tagen wieder feindlichen Spionen auf die Spur gekommen und es ist der Befehl gegeben, alle verdächtigen Personen sofort zu verhaften und wenn sie sich nicht ausweisen können, zu erschießen. Auch Agenten der revolutionairen Propaganda sollen sich im Lager zeigen und die Mißstimmung der Soldaten und Offiziere aufreizen. General Pelissier hat sogar auf unser Corps besonders hingedeutet. Das erinnert mich daran, daß ich den Schurken Lebrigaud alsbald nach dem Hauptquartier zu senden versprochen habe. Er ist einer der alten Zephyre des Generals und der Adjutant sagte mir, daß er ihn sprechen wolle, wahrscheinlich um ihm ein Geschenk zu geben. Wir treffen uns wohl in einer Stunde in der Cantine Nini's, Herr Graf?«
»Ich muß sogleich nach Kamiesch,« sagte dieser, »und werde Sie daher erst am Abend wiedersehen. Sie rücken doch vor morgen nicht aus?«
»Nein! Wir nehmen morgen noch die letzten Ordres in Empfang!«
»Auf Wiedersehen also, Colonel!«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Es war am Abend; um die Cantine der jungen Marketenderin hatten sich zahlreiche Gruppen gesammelt, denn es war so eben darin ein kurzes Kriegsgericht über einen ertappten Spion gehalten und dieser zum Erschießen verurtheilt worden. Der Unglückliche hatte sich unter der Maske eines armenischen Händlers mit seinem Knaben in Kamara und dem sardinischen Lager umhergetrieben, und gerade diese Verkleidung hatte zu seiner Entdeckung beigetragen, da aus dem Hauptquartier geheime Warnungen gegen einen gefährlichen Agenten der Propaganda an demselben Tage erlassen worden. In Kamara war der Verdächtige zwar verschwunden, ehe man sich seiner versichern konnte, dagegen wurde er in den französischen Linien auf dem Sapun von Zuaven ertappt und von einem Soldaten als der Zigeuner wieder erkannt, der im vergangenen Sommer in der Dobrudscha den Brunnen vergiftet. Auch der Colonel erkannte ihn wieder, überdies fanden sich mehrere wichtige Papiere bei ihm, die bewiesen, daß er das Spionenhandwerk schon lange im Lager mit großem Erfolg getrieben, und daß er augenblicklich im Besitz aller Nachrichten über den morgenden Sturm war. Die Erbitterung der Soldaten, als sie von der Vergiftung des Brunnens durch die Leichen hörten, war so groß, daß die Wache, die mit dem armen Sünder jetzt aus der Cantine trat, um ihn zur Execution zu führen, ihn nur mit Mühe vor einem[381] noch furchtbareren Schicksal bewahren konnte. Es war Mungo, der Zigeuner, den die Schwester diesmal nicht zu retten in der Nähe war, Mungo, der endlich seinem Schicksal verfallen. Die Gewöhnung an die Gefahr hatte ihm jetzt eine festere Haltung gegeben, als damals, da ihm zuerst der Strick drohte. Mit der Verstocktheit seines Volkes hatte er auch jedes Geständniß über seine Verbindungen im Lager und seine Mitschuldigen verweigert und schritt jetzt zum Tode, zwar mit scheuem, angsterfülltem Blick, nach jeder Gelegenheit des Entkommens spähend, aber wenigstens ohne weibische Klage. Neben ihm, in der Mitte der Wachen, ging der Knabe Mauro, sein Gefährte bei den meisten seiner kecken Spionagen, und in dem finstern Gesicht, den zusammengebissenen Zähnen und den feindlichen Blicken, mit denen er die Drohungen und Verwünschungen der Soldaten vergalt, lag der ganze Trotz und Haß, mit denen seine Jugend gegen die Unterdrücker seiner Kindheit erfüllt worden. Das Kriegsgericht hatte, in Betracht seines Alters, entschieden, daß er der Hinrichtung seines Gefährten beiwohnen, dann gepeitscht und in's Bagno von Constantinopel abgeliefert werden sollte.
Zugleich verließen die Offiziere, die das Kriegsgericht gebildet, die Cantine. Der Adjutant des General Wimpffen reichte dem Vicomte die Hand. »Berichten, Herr Oberst,« sagte er, »werden wir auf alle Fälle an General Bosquet, vielleicht dem Generalissimus müssen. Doch wird dazu die Abschrift der betreffenden Stelle genügen, wir haben kein Recht, indiscreter als nöthig mit dem Brief einer Dame zu sein, besonders unter so traurigen Umständen. Behalten Sie also einstweilen den Brief und befragen Sie Ihren Freund, den Medecin-Major, sobald er aus dem Lazareth von Kamiesch zurückkehrt, ich zweifle keinen Augenblick, daß er jede genügende Aufklärung wird leisten können.«
»Ich verbürge mich mit meiner Ehre für die seine.«
»Gewiß, gewiß – das Ganze ist offenbar eine Privatangelegenheit und wir durften sie nur um seiner selbst willen in Gegenwart der Offiziere nicht fallen lassen. Auf morgen denn, vor dem Malachof, der Ihr Patent einweihen wird!« Er ritt davon, »während der Colonel zur Cantine zurückkehrte, um die Meldung der vollzogenen Execution abzuwarten.«
Während der Sergeant-Major Fabrice die Papiere des Gerichts auf dem Feldtisch zusammennahm, ergriff der Vicomte den verhängnißvollen Brief, den man mit verschiedenen verrätherischen Notizen bei dem Spion gefunden hatte. Er war an den russischen General-Stabs-Capitain von Meyendorf in der belagerten Festung gerichtet und lautete:
»Mein Freund!
Im Angesicht des Todes, – ich selbst eine dem Tode Geweihte, – richte ich die letzten Worte an Sie auf dieser Welt. Der Mann, der mir Ihren Namen nannte, den Sie[382] sandten, nach mir zu forschen, wird Ihnen diese Zeilen überbringen.
Unsere Liebe, unser Glück wurde das Opfer eines Teufels. Von seinem Schmerzenslager, auf das die Wunde ihn warf, die Ihre rächende Hand in der Tschernaja-Schlacht ihm geschlagen, höre ich bis hierher den Verworfenen seine Flüche auf Sie und mich brüllen. Man will es mir nicht sagen, aber ich glaube, daß sein Haß mich absichtlich mit dem Pesthauch seiner Krankheit vergiftet hat, während ich meine Pflicht an seinem Lager that. Das fühle ich, daß meine aufgezehrten Kräfte mich nur wenige Stunden noch von der Ruhe trennen, die mein zerrissenes gebrochenes Herz begehrt.
Denn erst seit Tagen weiß ich durch die Geständnisse seines Fiebertobens und den Freund, den Gott an meine Seite stellte, am Krankenbett wie am schrecklichen Traualtar, ohne helfen zu können! – daß mein Opfer ein nutzloses, daß ich auch damit hintergangen war! – Doctor Welland, der Sie rettete in Widdin und Ihre Flucht bewerkstelligte, der in Silistria mit Ihnen in Verbindung stand und den ich als Regimentsarzt der Zuaven vor Sebastopol wiederfand, hat mir Alles klar gemacht und mir auch gesagt, daß er Ihnen Botschaft gesandt, wie nahe wir uns. Aber das Leben entflieht, und die Sterbenden haben Eile, darum sende ich meine letzten Grüße nicht durch ihn. Der Allmächtige gebe, daß Ihre Pflicht Sie morgen auf der Nordseite zurückhält und fern von den Gefahren, mit denen um 11 Uhr ein allgemeiner, sorgfältig verheimlichter Sturm den Malachof und alle Ihre Bastionen bedrohen wird. Wahren Sie Ihr Leben, um dem Gedächtniß Derjenigen eine lange, lange Erinnerung weihen zu können, die selbst als die Gattin eines Andern – des Vampyrs, der mein Herzblut gesaugt – nie aufgehört hat, Sie zu lieben, und die ihre Liebe hinüber nimmt in die ewige Zeit, wo keine Trennung ist! Meine Hand ermattet – das letzte Lebewohl, Alexander! – bis zum Wiederfinden dort Oben!
Helene.«
Er las den Brief wieder und wieder, und dachte betrübt an die Herzen, die rauh das Schicksal trennt und von einander reißt! Er dachte traurig der eigenen, in den Geschicken der Völker versinkenden Liebe! –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Erst gegen Mitternacht kehrte Doctor Welland von Kamiesch und den anstrengenden Vorbereitungen für den morgenden Kampf zurück; mit ihm der Baronet und der polnische Oberst. – Während der Vicomte dem Arzt den Brief zum Lesen einhändigte und ihn von dem Vorgefallenen in Kenntniß setzte, erschien der Sergeant-Major Fabrice Tonton mit einer dringenden Meldung. Er zeigte an, daß der Zuave Lebrigaud vor einer halben Stunde im trunkenen Zustand zurückgekehrt, prahlerische Reden führe, die[383] auf ein gefährliches und wichtiges Vergehen schließen ließen. Die Ausdrücke, die der Feldwebel berichtete, machten die Aufmerksamkeit des Vicomte rege und er befahl, mit Übergehung der bereites der Ruhe vor dem blutigen Kampf pflegenden Bataillons-Offiziere, den Kerl ihm vorzuführen.
Der Lüderjahn erschien alsbald, von Bourdon und Bernaudin geführt, mit der unverschämten und unbesorgten Miene, die all' sein Thun begleitete, und der erste Anblick schon bewies, daß er stark getrunken hatte.
»Ah, mein Commandant – nein, mein Colonel, ich grüße Sie!« sagte der Bursche, halb taumelnd salutirend. »Was steht zu Befehl, mein General, Ihr Befehl ist vollzogen und das Geld redlich verdient!«
»Wo kommst Du in diesem Zustand her – Du bist total betrunken.«
»Ah, mein General –« der Lüderjahn hielt offenbar den Vicomte für einen Andern, – »es ist eine verfluchte Fahrt auf den Grund des Meeres und man hat wohl das Recht, sich da einen Spitz zu trinken. Der Wein von Constantinopel ist verflucht gut! Fichtre – die Bursche paßten mir arg auf, ehe ich sie überlisten konnte! Drei Mal mußte ich tauchen, ehe ich das höllische Tau fand! Dieu me punisse! Wenn ich nicht meine Jugend am Strand von Marseille zugebracht – es wäre unmöglich gewesen. Aber Peste! General, Sie kennen Ihre Leute und erinnern sich der kleinen Fähigkeiten Ihrer Zephyre!«
»Was hast Du gethan – was sollen die Reden?«
»Ei, General,« lachte vertraulich der Halunke, »stellen Sie sich doch nicht so – das Tau des hundsföttschen Tele-Grafen ist durchschnitten, mindestens hundert Klaftern vom Ufer weit, und die Narren werden zu thun haben, die Enden wieder zu kriegen. Ich fand zum Glück einen Nachen – aber spät, General – sie paßten auf den Dienst und ich durfte doch erst im Dunkeln an's Werk!«
»Schurke – Du hast den Drath des Telegraphen zerstört?«
»Den Teufel, ja, General, stellen Sie sich doch nicht so, als ob Sie's mir nicht befohlen hätten. Sie wußten recht gut, daß ich mit jedem Seewolf um die Wette tauche! Geben Sie mir die zehn Napoleons, General – die andern sind – hui! Weiß der Henker, wo das Geld bleibt!«
Der Oberst wechselte mit den Freunden erschrocken erstaunte Blicke, dann winkte er dem Sergeanten und Corporal, zurückzutreten, und den Trunkenen beim Arm fassend, sagte er mit unterdrückter Stimme zornig: »Du zerschnittest das Tau auf Befehl des General Pelissier?«
»Versteht sich, General, Sie befahlen es ja selbst heute Mittag, als wir allein waren,« er schaute den Offizier mit gläsernen verstörten Blicken an, dann schien ihm die Wahrheit emporzudämmern.[384] – »Peste!« stammelte er – »ich glaube, ich bin ein Dummkopf gewesen – Sie sind nicht der Kommandant der Zephyre, nein, richtig, Sie sind mein Colonel! – Verdammt!« Er begann, sich hinter den Ohren zu kratzen und auf die Lippen zu beißen, der Schreck fing an, ihn nüchtern zu machen.
»Nehmen Sie diesen Kerl und übergeben Sie ihn dem Profoß,« befahl der Colonel dem Sergeant-Major. »Daß kein Mann mit ihm zu sprechen sich untersteht. Wagt er selbst, noch einen Laut von sich zu geben, so stecken Sie ihm einen Knebel in den Mund. Sie Drei beobachten strenges Schweigen über Alles, was Sie gehört. Fort mit ihm, ich werde ihn selbst morgen in aller Frühe zum Hauptquartier begleiten.«
Er winkte und der Zuave wurde, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, verdutzt und bestürzt abgeführt.
Als sie allein waren, wandte der Oberst sich zu dem Arzt und dem Grafen. »Was halten Sie von den Geständnissen des Burschen?«
»Es sähe General Pelissier ähnlich,« sagte der Arzt. »Man erzählt noch ganz andere Willkür von ihm und er wünscht wahrscheinlich für den morgenden Sturm und seine Folgen sich allen Befehlen von Paris zu entziehen. Aber mein Gott, was fehlt Ihnen, Graf – was bewegt Sie so tief?«
Der alte Mann, indem er sich mit den Zeichen der größten Aufregung aus einen Stuhl warf und die Hände faltete, stieß den Brief der Gräfin, den der Arzt auf den Tisch gelegt, herunter, daß er im Luftzug der geöffneten Thür einige Schritte davon flog.
Im Winkel saß der irre Jean, ohne daß man auf keine Anwesenheit geachtet. Seine Blicke waren fest auf den Brief geheftet gewesen, dessen Inhalt der Arzt laut gelesen, – sein bleiches abgemagertes Antlitz zeigte die Züge der äußersten Spannung, in seinen Augen blitzte es wie Wetterleuchten der immer mehr und mehr sich losringenden Seele, wie ein Entschluß ein Wille des zurückkehrenden Verstandes. Leise, wie mit Schritten einer Katze schlich er im Schatten dem Gegenstande seines Verlangens zu – noch eine Bewegung – er streckte die Hand danach – »Eilf Uhr! der Zug geht ab! Ich komme noch zur rechten Zeit!« – –
»Es liegt ein Fluch auf Allem, was ich thue!« sagte der Greis. »Diese unglückselige That wird die traurigsten Folgen haben. Der Kaiser –«
»Was ist mit ihm? reden Sie!«
»Wenn die Depesche, die ich nach Paris absandte, nicht schon abgegangen, bevor der schmähliche Streich, verübt ward, ist der Kaiser verloren und Pelissier trägt die Schuld. Doch – die Leben der Fürsten liegen in der Hand Gottes, sie mag ihn schützen, wenn sie will – meine Schuld ist abgetragen – hier aber, hier soll der Ehrgeiz und der Eigenwille eines Untergebenen nicht breitere Ströme von Blut vergießen, als der Wille des Gebieters gefordert[385] Gott sei Dank, ich kann den General zwingen, dem Entsetzlichen Einhalt zu thun, und unter den Geretteten wird der Allmächtige mir das Leben meines Enkels bewahren!«
»Sie sind außer sich, Graf – General Pelissier muß seine Pflicht thun gegen den Feind und diese fordert dessen Vernichtung.«
»Thörichte Männer,« sagte hohnlachend der Pole, »wißt Ihr nicht, daß all dies Blut, diese Leben nur einem leeren Spiele geopfert werden? daß der Friede zwischen den Herrschern längst geschlossen und Ihr nicht für Frankreich kämpft gegen Rußland, sondern für die Thorheit, Eure Fahne auf zerschossene Wälle zu pflanzen, deren Besitz dem Feinde bereits wieder gesichert ist?«
»Entsetzlich – diese Ströme von Blut, die täglich vergossen werden –«
»Sie haben keinen Zweck, als das kaltherzige Spiel der Diplomatie! Spiel – grausame, herzloses Spiel ist Alles im Leben, – der Republikaner spielt mit den Köpfen seiner Brüder für thörichte unausführbare Ideen, und der Autokrat thürmt Berge von Leichen seiner Getreuen um einer stoltzen Salve willen vom Invalidendom her! Soldaten meint Ihr zu sein, Krieger für Recht und Ruhm? – Gladiatoren seid Ihr, die der Imperator in die Arena schickt zu seiner Lust, und die, wenn Nero gesättigt, noch vom Ehrgeiz seines Centurionen zur Schlachtbank gepeitscht werden!«
Er sank erschöpft zurück in die Arme der erschütterten Offiziere; draußen aber vor dem Eingang der Cantine schollen die Tritte eines Pferdes, der Ruf der Schildwacht und die Antwort: »Ordonnanz aus dem Hauptquartier! Depesche für den Oberst des dritten Zuaven-Regiments.«
Der Vicomte nahm sie selbst dem Boten ab, bescheinigte den Empfang und öffnete sie in Gegenwart der Freunde. Sie war von dem General-Stabs-Chef Martimprey gezeichnet und lautete: »Colonel Méricourt hat sich mit dem Medecin-Major Welland morgen früh 7 Uhr bei dem Generalissimus zu melden und die Führung seines Regiments auf den angewiesenen Posten dem ältesten Major zu übertragen.«
»Das kommt meiner Absicht zuvor,« sagte fest der Colonel, »und gewiß – ich werde nach dem, was wir gehört, zur Stelle sein.«
»Und ich werde Sie begleiten,« sprach der Graf, »ich werde morgen sein Schatten bleiben.«
»Aber der Befehl, der uns bescheidet, hat offenbar Bezug auf die Verhaftung des Spions,« fügte Welland hinzu. – »Nahmen Sie den Brief zurück, Colonel? ich legte ihn hierher.«
»Nein!«
Der Brief war verschwunden. Jean – der Irre – der Schützling Nini's, mit ihm. Sie aber schlief sanft und ermüdet auf ihrem Lager.[386]
Der Morgen graut unter dem Zischen und Krachen der Bomben; der Feind hat in den letzten 24 Stunden an 70000 Vollkugeln und 16000 Bomben und Granaten in die Stadt geworfen.
Zwischen den demolirten Weingärten, welche sich von der Meierei Burnasi am Zusammenstoß des Laboratornaja- und Sarakandina-Grundes nach der Spitze der Südbucht hinziehen, zwischen dem großen Redan und der Mast-Bastion kriecht von Graben zu Graben, von Trümmern zu Trümmern ein armselig Wesen, ein junger, in den grauen Platschtsch gehüllter russischer Soldat. Er ist waffenlos, seine fast nackten Füße bluten, an scharfen Stein- und Eisensplittern zerrissen. Noch hat die Kanonade nicht begonnen, deren Beantwortung aus den Batterieen Perekomski, Stal und Kostanarof mit einem Hagel von Kartätschen und Vollkugeln sonst den Boden fegt und jede Annäherung unmöglich macht. Nur einzelne Bomben, von der Chapman-Batterie auf dem weißen Berg geworfen, schlagen in den Felsenboden ein oder klatschen weiter hin das Wasser der Bucht. Der junge Mann wendet kaum den Kopf nach ihnen. Einen Augenblick hält er unter den Trümmern einer Feldschanze an, welche die Kugeln zusammengerissen, und hebt den Kopf, um sich zu orientiren. Aber die aus dem Meer und den Schluchten aufsteigenden Nebel hindern ihn, der leise Anschlag der Wellen, den sein geschärftes Ohr in einzelnen Pausen des Bombardements vor sich zur Rechten hört, ist der einzige Halt, den er wahrnimmt. »Ich bin von dem Wege abgekommen,« murmelt der arme Bursche vor sich hin – »das ist nicht die Richtung, die ich dem Fähnrich bezeichnete! Doch Gott und die Heiligen haben bis hierher geholfen und werden mich schützen – eilf Uhr, ich komme vorher!« – Es ist Jean, der Irre, der in dem sorgsam bewahrten Mantel des Fähnrichs Lasaroff dessen Flucht mit dem kostbaren Brief, den er gestohlen, nachgeahmt. Der arme Bursche hat einen weiten Umweg gemacht, um den französischen Posten und Batterieen zu entgehen, die Erinnerung der Kinderjahre, während deren er einige Zeit in der Festung zugebracht, ist in ihm aufgetaucht und hat mit merkwürdigem Instinkt ihn die verborgensten Richtungen geführt.
Eine auffallende Veränderung ist überhaupt mit ihm vorgegangen; das Bewußtsein, der Verstand kehrt immer klarer zurück, nur einzelne wüste Sprünge macht der Wahnsinn noch, der ihn so lange befangen; die deutliche zusammenhängende Erinnerung fehlt ihm zwar noch, Tage, Monate, Jahre scheinen ausgestrichen aus seinem Gedächtniß, nur einzelne Momente daraus stehen deutlich vor seiner Seele, während aus dem Zustand seines Irrseins ganze zusammenhängende Wahrnehmungen, Beobachtungen und Entschlüsse sich bereits in ihm entwickelten.
Er weiß, daß er Russe ist, daß sein Vaterland in Gefahr, Ssewastopol von den Feinden bedroht ist! Er hat erfahren, daß der Malachof die Vormauer der Festung, daß er am nächsten[387] Morgen um 11 Uhr angegriffen werden soll und Alles davon abhängt, daß die Garnison zum Kampfe bereit sei. Er weiß, daß dies Alles der Brief enthält, den er auf der Brust verborgen trägt und daß seine Bestellung, verbunden mit der mündlichen Botschaft, die Festung retten mag! Das ist der einzige Gedanke, das einzige Ziel seiner wiedererwachten Vernunft!
So schleicht er vorwärts – von Stein zu Stein, von Wall zu Wall, bald kriechend, bald zusammen kauernd, bis plötzlich ein russischer Anruf, die Frage nach dem Feldgeschrei, ihn emporschreckt. Ehe er sich noch besinnen, ehe er eine Antwort stammeln kann, blitzen Musketen vor seinen Augen, knallen Schüsse, ein heftiger zuckender Schmerz am Kopf, wie ein Peitschenschlag, warmes Blut, sein eigenes, strömt über sein Gesicht, und er fällt besinnungslos nieder.
Ihm wird wohler und wohler, er fühlt gleichsam, wie das Fieber von ihm weicht, das bisher sein Gehirn verzehrt. Ihm ist, als hörte er um sich her Stimmen, er fühlt sich aufgehoben und fortgetragen. Ein Augenblick lichteren Bewußtseins läßt ihn russische Soldaten, Offiziere und Matrosen um sich, wie durch Nebel erkennen, einen Wundarzt, der neben ihm knieet und ihn verbindet, er versteht in einer kurzen Pause des Geschützdonners der Batterie Worte, die flüchtig gewechselt werden.
»Es hat nicht viel auf sich, Excellenz,« sagt der Wundarzt. »Drei bis vier Stunden Ruhe werden ihm vollkommen Besinnung und Kraft zurückgeben. Der dicke Bund um den Zuaven-Fez hat die Kraft des streifenden Schusses gebrochen und die leichte Blutung thut ihm eher gut, als daß sie schadet.«
»Der Fürst muß erst dieser Tage in Gefangenschaft gerathen sein und hat sich offenbar selbst ranzionirt. Aber wir haben keine Zeit, die Sache zu untersuchen, und hier kann er nicht bleiben. Diesen Dienst wenigstens sind wir seiner hochherzigen Schwester schuldig, die, seit das Mütterchen Praßkowja Iwanowna auf dem Malachof Kurgan von der Bombe zerrissen wurde, der Engel der Barmherzigkeit für unsere Brüder auf der andern Seite ist. Nehmen Sie vier Mann und lassen Sie den Verwundeten mit einer Trage zum Paulsfort bringen – dort in der Nähe des Lazareths wohnen die Geschwister, seit ihr Haus von den Kugeln zerstört.«
Wieder krachten die Kanonen und verschlangen halb den Befehl – wiederum schwand das Bewußtsein des Verwundeten, der sich auf's Neue emporgehoben und in dem Kugelregen fortgetragen fühlt, der auf die Bastionen und die Trümmer der Stadt herunterprasselt.
Die Hand des Allmächtigen schützt die Träger, schützt die Bahre! –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Stunden verrinnen in dem furchtbaren Toben der Geschütze; stürzende Mauern, berstende wankende Dächer, das Stöhnen der[388] Verwundeten, das letzte Ächzen der Sterbenden! Kommandorufe, die sich kaum verständlich machen können, das Rollen der Trommeln – die Hölle scheint alle Schleusen ihrer Schrecken geöffnet zu haben.
Auf einem Feldbett in einem kleinen kasemattirten Gemach des Fort Paul, das mit einer anstoßenden Kammer die allgemeine Verehrung, die Iwanowna Oczakoff genießt, ihr und den Ihren eingeräumt hat, liegt der junge Verwundete, den General Semjakin von der Mastbastion hierher gesandt hat. Vor ihm knieet Nursädih, die schwarze Sclavin, beschäftigt, sein Gesicht mit stärkenden Essenzen zu reiben, während ihre Linke das Kind an ihre Brust preßt. Unfern davon – bleich, ängstlich die Wiederkehr des Bewußtseins beobachtend, steht Annuschka – die Wittwe de Sazé's mit dem zweiten Kinde, das Gottes Schickung am Hochzeitstage an ihr Herz gelegt.
Sie zittert heftig – sie allein mit der treuen Nursädih weiß um das Geheimniß, sie hat den Verwundeten erkannt.
Dumpf nur hallt der Kanonendonner in diesem geschlossenen Raum. Plötzlich schlägt der Kranke die Augen auf, seine Blicke sind klar, lebendig. Er richtet sich empor – er schaut um sich, zuerst erstaunt, bestürzt, allmälig bewußter; er erkennt die Frauengestalt am Fuße des Lagers: »Annuschka, treue Annuschka, Du bei mir – sprich, wo bin ich, wo ist Iwanowna, meine Schwester?«
»Fürst Iwan! Gott und die heilige Jungfrau seien gelobt, die Dich uns zurückgegeben. Du bist in Ssewastopol, Gospodin, Du warst bei den Feinden Deines Volkes und Dein Geist von der Hand des Herrn mit Schatten bedeckt.«
»Ssewastopol! – mein Gott, ja – ich erinnere mich –« er springt vom Lager empor – »der Brief – eilf Uhr – die Flucht – das weiß ich! Alles Andere ist wirr und dunkel noch in meinem Gedächtniß! Aber der Brief – wie viel Uhr ist es, Annuschka?«
»Zehn Uhr, Batuschka!«
»Zehn Uhr!« Der Ruf gellt schneidend durch das Gemach. »Fort, um Gotteswillen, fort! oder Alles ist verloren!« Ein hastiger Blick umher zeigt ihm einige Uniform- und Waffenstücke an den Wänden; er reißt sie herunter und ist im Nu damit bekleidet. Annuschka ringt die Hände und sucht ihn vergebens festzuhalten, alle Kraft und Besinnung ist ihm wiedergekehrt, das vergossene Blut hat wohlthätig auf ihn gewirkt.
»Um des Erlösers willen, Fürst Iwan, ich lasse Dich nicht! Die Fürstin –«
»Wo ist sie? Wo ist Wassili, Dein Bruder?«
»Heiliger Basilius – Du weißt nicht, daß er für Dich starb?«
»Nichts, Weib, ich weiß Nichts, als daß jeder Augenblick Zögerung Ssewastopol stürzt.« Er sucht hastig nach dem Brief und[389] zieht ihn aus seiner Brust hervor. »Wo ist der Oberkommandant, weißt Du, wo der Generalstab sich befindet?«
»Auf der Sievernaja, Fürst Iwan, ist General Osten-Sacken – wo willst Du hin, Herr – Iwanowna –«
»Das Vaterland vor der Schwester! Wenn Du eine Russin bist, wenn der zehnfache Fluch aller kommenden Geschlechter von Boris nicht auf Dir ruhen soll, fliege, eile, suche den Capitain Meyendorf dort auf, gieb ihm diesen Brief, dem General selbst, wenn Du jenen nicht findest! Schrei' es aus durch die Gassen, jedem Offizier, dem Du begegnest, entgegen! Die Franzosen stürmen um Mittag die Stadt, dreißigtausend Feinde stehen verborgen vor dem Malachof!«
»Allmächtiger Gott, und die Fürstin ist auf der Bastion – auf Deinem Posten, Fürst Iwan!«
»Auf meinem Posten? – Wahnwitzige! Ja wohl ist der meine dort, Ssewastopol zu retten! fort mit Dir!«
Er warf ihr den Brief zu und stürzte hinaus – Annuschka ihm nach. Draußen am Eingang der Kasematten lehnten Olis und Demetri, die Letzten der sechs Brüder, zum Schutz der Frauen von der Fürstin zurückgelassen, während der Jessaul sie begleitet hatte, und die erstaunt der wohlbekannten Gestalt nachschauten, die sie fern auf den Wällen wähnten. »Ihm nach!« befahl mit Wort und Geberden die Frau, »ihm nach, weicht nicht von seiner Seite und schützt sein Leben mit dem Euren!«
An den prächtigen, jetzt mit Trümmern und Verwundeten bedeckten Quais und Docks der Schiffer- Bucht entlang floh der junge Mann den wohlbekannten Weg nach den äußeren Vertheidigungswerken zu, gefolgt von den beiden Kosaken.
Seit einer Stunde fast hat das heftige Feuer der Belagerer nachgelassen und nur in Pausen fallen die Schüsse. Die russischen Kanoniere verschnaufen schweiß- und blutbedeckt an ihren Kanonen – die Mannschaften lagern sich an den Leichen ihrer Kameraden zur augenblicklichen kurzen Ruhe; Abtheilungen rücken zur Stadt zurück – sie Alle glauben, daß die gewöhnliche Ruhe der Mittagszeit eingetreten in dem beiderseitigen Feuer, und obschon auf die Meldung, daß feindliche Truppen die Trancheen vor dem Malachof anfüllten, einige Truppen von General Chruleff, dem Kommandeur der Karabelnaja-Seite als Reserve aufgestellt worden, hielt man doch nicht den Angriff für so nahe.
Dem dahin Stürmenden, der den begegnenden Offizieren und Soldaten zuschreit, der Malachof-Kurgan sei in Gefahr, wirbelt Trommelschlag in der Nähe der Bjelostok'schen Kirche entgegen. Das Regiment Jelets rückt in die Linie hinter der Batterie Scherwe, ein Bataillon des Jäger-Regiments Fürst Warschau, das die Nacht über in der Korniloffski-Bastion geschanzt hat, will die Pause der Kanonade benutzen und zur Stadt zurück. Offiziergruppen sind den Truppen voran – ihnen begegnet Jean – Iwan mit dem[390] Ruf: »Zurück! Zurück! die Franzosen stürmen den Malachof!« Man staunt einen Augenblick ihn an, ein Stabs-Offizier springt vor, Graf Wassilkowitsch, jetzt General-Major, der seit acht Tagen mit den Verstärkungen eingerückt, eben vom Malachof kommt. – »K tschortu, Capitain Oczakoff, wie kommen Sie hierher? Sie haben Ihren Posten auf dem Kurgan verlassen? Geben Sie Ihren Degen ab, Herr, Sie sind Arrestant!« – Der junge Capitain faßt seinen Arm. »Meinen Posten? Ich war auf dem Malachof? ich? ich bin so eben aus dem feindlichen Lager entflohen, die Gefahr der Festung zu verkünden!« – »Sind Sie wahnsinnig, Herr?« tobt boshaft der Ober-Offizier – »ich verließ Sie vor zehn Minuten auf dem Posten, den ich Ihnen zugetheilt, wie Sie mir einst den Posten auf Schloß Aju anwiesen. Antwort, Herr Capitain, wie kommen Sie hierher?«
Da kracht es und schwirrt und tobt und prasselt es durch die Luft, – eine einzige Salve aus neunhundert Feuerschlünden! Drei steinschleudernde Fugassen entladen sich aus den kaum 30 Metres von dem Malachof noch entfernten Approchen und zermalmen die Brustwehren und Merlon's in dem ausspringenden Winkel der Bastion. Ein donnerndes »Vive l'Empereur!« jubelt durch den Geschützdonner und ein heftiges Kleingewehrfeuer von links und vorwärts zeigt den begonnenen Kampf.
Durch die Vorstadt herauf kommt General Chruleff mit wenigen Adjutanten gesprengt und wirft sich vom Pferde. Meldungen jagen von allen Seiten herbei, Befehle fliegen davon. »General-Major Wassilkowitsch, nimm die Jäger Fürst-Warschau und das Brjanskische Regiment und hinauf mit ihnen zur Korniloffski-Bastion. Fürst Iwan Oczakoff, bringe Sabaschinski an der fünften Abtheilung den Befehl, der Thurm-Bastion4 zu Hilfe zu eilen. Fort mit Dir!« Der junge Mann, erschrocken, willenlos vor dem plötzlichen Ausbruche der Gefahr, eilt, dem Befehle Folge zu leisten, davon.
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Vor der bestimmten Stunde schon hat sich der Colonel Méricourt mit dem Medicin-Major Welland und dem polnischen Obersten im Hauptquartier eingefunden. Eine Wache von zwei Mann geleitet hinter ihnen den Zuaven Lebrigaud mit auf den Rücken gebundenen Händen und verlegenem trübseligem Gesicht.
Die drei Männer sind ernst und gedankenvoll. Dem unangenehmen Verlust des Briefes ist am Morgen ein anderes seltsames Ereigniß gefolgt – der irre Jean ist aus der Cantine Nini's verschwunden, der Bursche, der sich sonst nicht ohne Begleitung fünfzig Schritt über die Baracken-Reihen des Regiment gewagt, ist nirgends zu finden und Nini untröstlich, denn die Pflicht ruft sie in die[391] Reihen ihres Bataillons, und sie will heute durchaus nicht zurückbleiben – eine unbestimmte Ahnung treibt sie.
Doctor Welland beschäftigt dies Verschwinden offenbar mehr, als der neue verdrießliche Verdacht, der auf ihm lastet. Er hat, so viel in der Eile sich thun ließ, die eifrigsten Nachfragen angestellt, ohne indeß auf eine Spur zu stoßen, außer daß unter den wenigen Sachen des Armem der russische Mantel fehlt, den er nach seinem eigenen Geständniß von dem jungen Fähnrich zurückbehalten. Zehn Mal treibt es ihn an, die seltsame Entdeckung, die ihm Fürst Iwan bei seiner Flucht zugeflüstert, den Inhalt des von Jussuf heimlich überbrachten Briefes, der ihm mit den dringendsten Worten ängstliche Sorge und Aufmerksamkeit für den Irren an's Herz legt, dem Colonel mitzutheilen. Zwar ahnt er nur die Hälfte des Geheimnisses, er weiß aus den Worten des Fürsten nur, daß Jean ihm nahe steht durch Bande des Blutes – er weiß zu wenig von den Geschwistern, um eine bestimmte Muthmaßung zu fassen, und seine vorsichtige Nachforschung bei Nini und ihrem Bruder ist an deren Schweigen gescheitert. Aber sein feierliches gegebenes Ehrenwort an den Fürsten bindet ihn und läßt ihn schweigen.
Das Quartier des Generals, halb Zelt, halb Baracke, ist von Stabsoffizieren umgeben, Adjutanten kommen und gehen jeden Augenblick und die Pferde des Generalissimus stehen bereits gesattelt. Auf die Meldung, die der Colonel durch einen der arabischen Leibdiener Pelissier's hineinsendet, kommt jedoch alsbald der Befehl, in das innere Gemach zu treten. Der Colonel befiehlt Lebrigaud zu folgen, während der alte Pole zurück bleibt und sich mit den Offizieren des Generalstabs unterhält.
In der Zelt-Abtheilung, die das Cabinet des Ober-Kommandirenden bildet, befindet sich, von dem zweiten Araber bedient, General Pelissier, mit dem Ankleiden beschäftigt, während General Martimprey, sein Stabschef, über einen großen Plan der Festungswerke gebeugt, noch verschiedene Details mit ihm bespricht und ein Adjutant die Punkte notirt.
Die Miene des Generals ist hart und finster, als er die Beiden eintreten sieht, aber offenbares und unangenehmes Erstaunen malt sich auf seinem Gesicht, als er hinter ihnen den Zuaven erblickt. Er tritt sogleich hastig auf sie zu. – »Was soll die Freiheit heißen, Colonel Méricourt, die Sie sich herausnehmen, diesen Burschen in mein Gemach zu bringen, während ich nur Sie und diesen Herrn da hierher befohlen habe?«
»Euer Excellenz wollen den Drang des Augenblicks entschuldigen,« erwidert ruhig der Vicomte, »ich wäre auch ohne den eingegangenen Befehl genöthigt gewesen, mich Ihnen vorzustellen. Dieser Mann hat sich diese Nacht im Trunk gerühmt, das Seil des unterseeischen Telegraphen bei Kamiesch durchschnitten zu haben.«
»Da hätten wir ja den Thäter,« sagt General Martimprey.[392] »So eben ist die Meldung von dem Unheil eingegangen, das der Bursche angestiftet.«
»Zum Teufel mit dem Telegraphen!« herrscht unwillig der General. »Die Anzeige hätte Zeit gehabt bis morgen, oder an den General der Brigade geschehen müssen.«
»Euer Excellenz entschuldigen, ich hielt ihn hierher zu führen für meine Pflicht. Der Kerl hat anzudeuten gewagt, daß er den Telegraphen auf Euer Excellenz Befehl zerstört hat.«
Das Gesicht des Ober-Feldherrn färbt sich dunkelroth bis unter die weißen Haare. Ein wüthender Fluch entschlüpft seinen Lippen, auf welche tief sich die Zähne pressen, sein funkelndes Auge fährt zornig bald auf den Colonel, bald auf den Zuaven. »Maudit soit le butoir! Das hast Du gewagt, Schurke?«
Lebrigaud blickt halb trotzig, halb furchtsam auf. – »Gesagt kann ich's wohl haben, wenn's der Colonel einmal behauptet,« murrt er, »aber das ist kein Beweis, daß es wahr sein muß! Ich weiß keine Sylbe davon und war betrunken.«
General Pelissier läßt einen pfeifenden Ton zwischen den Zähnen hören, man kann nicht unterscheiden, ob er Behagen oder Zorn anzeigt; ehe er aber noch der Sprache Herr wird, mengt sich der Generalstabs-Chef in die Verhandlung, indem er sich zu dem Gefangenen wendet: »Aber Du gestehst zu, den Drath zerstört zu haben?«
»Fichtre! was hilft alles Leugnen, das Unglück ist mir passirt – beim Baden, ich tauche ziemlich gut und blieb hängen an dem verfluchten Strick; er oder ich! Da dacht' ich, es wäre besser, daß der Kaiser einen Zuaven behielte, der heute die Fahne auf den Malachof pflanzen kann, als daß ich da unten im Grunde wie an einem Angelhaken hängen bliebe. Zur Niederschlagung auf den Schreck hab' ich ein Paar Flaschen getrunken, und da vielleicht dummes Zeug geschwatzt, um mich vor Strafe zu schützen. An einer Lüge stirbt ein Bursche wie ich bin nicht gleich!«
»Nein, der Schlag müßte Dich denn jetzt gerührt haben!«
»Lassen Sie den Burschen, Martimprey,« sagte der Generalissimus, »die Entschuldigung läßt sich hören. Mach', daß Du zu Deinem Regimente kommst, Canaille, und wenn Du heute Mittag nicht der Erste im Sturm bist, so laß' ich Dich morgen schinden. Fort mit Dir!«
Der Halunke läßt es sich nicht zwei Mal sagen und mit einer halb spöttischen Verneigung verschwindet er, während die andern Anwesenden sich betroffen ansehen.
»Und nun zu Ihnen, mein Herr, der Sie mit solchen Lappalien die kostbare Zeit rauben,« fährt der General den Offizier an. »Ich habe gestern Abend noch mit General Bosquet über den Bericht des Generals Wimpffen gesprochen. Dieser Herr da« – er deutete auf den Arzt – »hat schon früher sich verdächtig gemacht und ist in Varna unter dem Verdacht des Verkehrs mit[393] dem Feinde verurtheilt worden. Wo ist der Brief, der die Bestätigung der Spionage enthält und den man verkehrter Weise in Ihren Händen gelassen, der Sie der Freund und Gönner dieses saubern Herrn sind?«
Das Gesicht des Colonels entfärbt sich. – »Excellenz, ein unglücklicher Zufall hat das Papier verloren gehen lassen, aber ich betheure auf meine Ehre ...«
»Wenn mir Euer Excellenz Gehör gestatten wollen,« fügt der deutsche Arzt hinzu, »so ...«
»Schweigen Sie! Wer mit den Russen verkehrt, ist ein Feind! Diese deutschen Eindringlinge waren stets Verräther gegen Frankreich. Sie sind Ihres Dienstes entlassen und werden mit dem ersten Schiff nach Constantinopel die Krimm verlassen!«
»Das ist eine Ungerechtigkeit, Excellenz! ohne Untersuchung, ohne Vertheidigung meiner Ehre ...«
»Danken Sie es diesem Herrn hier,« schrie der General, »der so geschickt zur rechten Zeit die Briefe seiner guten Freunde verliert, während er Verleumdungen seiner Vorgesetzten protegirt, daß ich Sie nicht dem Kriegsgericht übergebe, wie ich es gewollt. Und Sie, Colonel, schämen Sie sich der Freundschaft für so zweideutige Gesellen. Wenn das die vielgerühmte Treue für den Kaiser ist, die die adeligen Herren von der Garde in die Linie mitbringen, so danke ich für solchen Einschub!«
Der Vicomte ist todtenbleich – seine Augen funkeln, aber er sucht sich gewaltsam zu fassen, während General Martimprey besorgt näher tritt. – »Mäßigen Euer Excellenz Ihre Worte,« sagte er endlich, ein Papier aus der Uniform ziehend. »Wer sich seines Verkehrs zu schämen hat, glaube ich nicht zu sein. Wenn Euer Excellenz meine Ernennung zum Oberst des dritten Zuaven-Regiments unangenehm, so kann ich Ihnen damit entgegenkommen, daß ich Ihnen mein Abschiedsgesuch hiermit überreiche und um seine Beförderung bitte. Ich diene Frankreich's Ehre, nicht einem frevelhaften Spiel mit dem Leben der Armee – und bitte Euer Excellenz, wenn ich den Sturm überlebe, mein Kommando bis zur Entscheidung des Kriegsministers niederlegen zu dürfen!«
»Gleich, Herr! gleich! zur Stelle, wenn's beliebt! Wenn dem Herrn Vicomte der Malachof zu gefährlich scheint, wird jeder bürgerliche Unter-Lieutenant gern seine Stelle beim Angriff versehen!«
Der Colonel zuckte zusammen. – »Meine Ahnen, Herr General, fochten als Barone bereits mit Auszeichnung in den Kreuzzügen, während die Ihren vielleicht noch vor sechszig oder siebzig Jahren als Schuster hinter'm Ofen saßen. Alter Adel hat wenigstens das Gute vor den Emporkömmlingen aus dem Plebejerthum, daß er sich in allen Lagen als Gentleman zu betragen versteht!«
»Mir das, Herr!?« – in blinder Wuth hob der General die Hand, in der er bereits die Reitpeitsche trug.[394]
Der Vicomte trat einen Schritt zurück und legte ohne ein Wort zu sagen die Hand an den Säbelgriff. Martimprey fiel dem General in den Arm und der Arzt umfaßte den Freund und zog ihn halb gewaltsam aus der Thür. Die Offizier-Gruppen im Vorgemach hatten bei dem Geräusch des bevorstehenden Aufbruchs und der entfernten Kanonade wenig von dem Streit gehört und waren zu gewöhnt an Zornausbrüche des Generalissimus, um viel darauf zu achten. Der Colonel stand noch vor dem Zelt mit den Freunden, einen Augenblick unentschlossen, was er zu thun habe, als General Martimprey ihm nach kam, ihn am Arm faßte und bei Seite führte. – »Es thut mir leid, Herr Vicomte,« sagte er, »daß es zu einer solchen Scene gekommen. Aber der Generalissimus hat gestern Abend mit Bosquet und heute Morgen andere Verdrießlichkeiten bereits gehabt und die dumme Geschichte mit dem Telegraphen, an der er wahrscheinlich nicht ohne Antheil ist, hatte ihn in Wuth gebracht. Sie sind ihm indeß Nichts schuldig geblieben und er läßt Ihnen sagen, Sie möchten an der Spitze des Regiments den Russen nur eben so begegnen wie ihm. Morgen, so wir leben, wird sich Alles ausgleichen und hoffentlich auch für den Doctor da Etwas thun lassen. Jetzt eilen Sie fort, denn der General wird sogleich zu Pferde steigen, um die letzte Besichtigung vorzunehmen.«
Der Colonel salutirte höflich, aber kalt. – »Nehmen Sie meinen Dank, Herr General – ich werde meine Pflicht thun, doch, verschont mich auch die Schlacht, der Armee des Kaisers Napoleon werden wir Beide nicht länger angehören. Leben Sie wohl!«
Einige kurze Worte noch zu dem polnischen Veteranen, ein bezeichnender Händedruck, dann eilte er mit dem Freunde davon.
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Die Verbündeten harrten in drei Angriffs-Colonnen des Zeichens zum allgemeinen Sturm; alle Dispositionen waren auf's Sorgfältigste getroffen und größtentheils den Russen gänzlich verborgen geblieben, indem schon seit dem frühen Morgen ein heftiger Nordwind wehte und große Staubwolken emportrieb, welche die Bewegungen der Franzosen verhüllte.
Die Division Levaiklant auf dem linken Flügel sollte die Central-Bastion (V.) und ihre Lünetten angreifen, unterstützt von der Division d'Autemarre, welche sich gegen die Mast-Bastion (IV.) zu wenden bestimmt war im Verein mit der sardinischen Brigade des Generals Craldini. Die Divisionen Bouat und Paté mit dem 30. und 35. Linien-Regiment bildeten die Reserven auf dem äußersten Flügel, den Quarantaine-Werken gegenüber; General de Salles führte den Oberbefehl.
Auf der östlichen Seite, der Karabelnaja gegenüber, war der gleichzeitige Angriff gegen mehrere Punkte gerichtet. General Dülac sollte mit zwei Brigaden auf dem rechten Flügel den kleinen Redan (die (Thurm-) Bastion II.) stürmen, unterstützt von[395] der Brigade Marolles und dem Garde-Jäger-Bataillon. Der zwischen dem kleinen Redan und der Kornilowski-Bastion (Malachof) gelegenen großen Courtine, welche beide Werke unter sich und mit der rückliegenden zweiten Vertheidigungs-Linie, den sogenannten schwarzen Batterieen (Batterie Henrighof), verband, stand General de la Motterouge gegenüber mit zwei Brigaden, die Voltigeurs und die Grenadiere der Garde unter General Mellinet als Reserve.
Den Malachof selbst und die Batterie Scherwe (Gervais – zwischen dem Malachof und dem großen Redan) war General Mac-Mahon mit der ersten Division des Bosquet'schen Corps anzugreifen bestimmt, die Brigade Wimpffen und die zwei Garde-Zuaven-Bataillone als Reserve.
Sobald die Franzosen im Malachof sich festgesetzt, sollten auf ein gegebenes Zeichen die Engländer den großen Redan (Bastion III.) stürmen. Der Erfolg am 18. Juni hatte gezeigt, daß, so lange die Batterieen des Malachof den Redan deckten, die Engländer ihn nicht zu nehmen vermocht hätten. General Simpson hatte sich in den kläglichen Antheil gefügt, den Pelissier seinem Verbündeten an dem blutigen Ruhm des Tages zugestanden.
Gegen einen Angriff des Fürsten Gortschakoff von Inkerman und der Tschernaja her waren die Truppen der Generäle d'Herbillon und d'Aurelle, die Cavallerie d'Allonville's und der Rest der Sardinier aufgestellt.
Um 8 Uhr Morgens hatten die sämtlichen Truppen ihre Aufstellung in den Trancheen genommen, in denen zum leichtern Vorgehen breite Durchgänge eingehauen waren. Zwei Batterieen Feldgeschütz standen in der Lancaster-Batterie bereit, im Galopp heranzustürmen, und vier andere Batterieen als Reserve in der Victoria-Redoute. Jede Colonne hatte 60 Sappeurs bei sich, je ein halbes Bataillon führte Werkzeuge und Bohlen für das Passiren des Grabens, und die Colonne begleiteten 50 Kanoniere, um nach den Ergebnissen des Kampfes die eroberten feindlichen Geschütze zu vernageln oder gegen die Russen selbst zu kehren.
Um 10 Uhr hatte sich General Bosquet auf den gewählten Posten in die sechste am weitesten gegen die Courtine vorgeschobene Parallele begeben, wohin freilich die Schußlinien der feindlichen Geschütze convergirten, der aber einen vollständigen Überblick des Kampfplatzes ermöglichte. Hier erwartete er die festgesetzte Stunde. Ein Signal zum Beginn des Sturmes sollte von der Brancion-Redoute, wo der Generalissimus um 10 Uhr 45 Minuten sich eingefunden, nicht gegeben werden. Alle Uhren der Divisions-Generale waren nach der Uhr des Ober-Befehlshabers gestellt – sobald der Zeiger auf eilf Uhr 30 Minuten stand, hatten die drei Angriffs-Colonnen hervorzubrechen.
Die Russen lagen ruhig und achtlos in ihren Traversen.
Es waren Augenblicke der furchtbarsten Spannung. Die[396] französischen Generale standen aufrecht unmittelbar an den Brüstungen, die Uhr in der Hand, die Offiziere hatten ihre Säbel und Degen gezogen, die Truppen, in gebückter Stellung in den Trancheen, hielten das Bajonnet gefällt.
In der äußersten Tranchee, welche links nach dem Kirchhof zu und dem Dokowaja-Grund die Strandstraße aus Sebastopol nach der Inkerman-Brücke schneidet, hat das dritte Zuaven-Regiment mit den algierischen Scharfschützen seinen Stand; es ist bestimmt, die Batterie Gervais anzugreifen, und die Zuaven fluchen heimlich, daß die Reihe, die Ersten zu sein gegen den Malachof, diesmal ihre Kameraden vom ersten Regiment getroffen.
Auf den Säbel gestützt, in Gedanken trotz des furchtbaren Augenblicks verloren, steht der Vicomte. Die leise Berührung einer eiskalten Hand, welche sich auf die seine legt, weckt ihn. Aufblickend sieht er neben sich Nini, die Marketenderin. Ihre Augen sind geröthet von Thränen, ihr bleiches Gesicht drückt Angst und Kummer aus. »Haben auch Sie noch immer keine Spur von ihm gefunden, mein Herr? Verzeihen Sie meine dreiste Frage, die Angst zerreißt mein Herz!« Sie flüstert es leise, denn jedes Geräusch ist streng verboten.
»Sie meinen Jean? Nein, Mademoiselle. Der Bursche wird sich wohl wiederfinden. Doch, was thun Sie hier, Nini? Sie gehören zum Nachtrab und nicht in die vordersten Reihen.«
Das Mädchen preßte die Hände auf das Herz und ihr banger seelenvoller Blick schaute bittend zu ihm empor. »O, lassen Sie mich hier, Monsieur le Colonel,« flüsterte sie – »wissen Sie denn nicht, daß er ein Russe ist?«
»Ein Russe?«
»Ich wußte es zuerst auch nicht, aber später wurde mir's klar. Vor zwei Jahren war er mein Freund und Beschützer in Paris – aber am Abend des 5. Juli traf uns Alle ein furchtbares Unglück und seitdem ist er irrsinnig.«
Der Vicomte starrte sie mit Entsetzen an – der 5. Juli – in seiner Seele stieg ein Bild empor – ein Gedanke, selbst halb wahnwitzig und dennoch – all' die sich verkettenden Umstände – er öffnete die Lippen zur weitern Frage – –
Da krachte und donnerte es über ihren Häuptern, als wollte der Himmel zerreißen in seinen urewigen Grundfesten. Die sämtlichen Geschütze hatten noch eine volle Ladung gegeben – der Augenblick war gekommen. Die Generäle, ihren Hut über dem Haupte schwingend, erschienen auf der Brüstung, auf dem äußersten Epaulement der Trancheen zeigte sich das Commando-Fähnlein Bosquets, die Trommeln wirbelten, die Trompeten schmetterten, ein tausendstimmiges Hurrah erschütterte die Luft – und vorwärts ging es zum Sturm.
Mac-Mahon mit der Brigade Espinasse, das erste Zuaven-Regiment voran, links ihm folgend das 7. Linien-Regiment, warf[397] sich auf den Vorsprung des Malachof und auf die linke Façade der Bastion, dort wo dieselbe mit der Courtine zusammenhing. Der Raum zwischen den Laufgräben und dem Ravelin der Bastion betrug etwa 50–70 Schritt im Sturmeslauf, im Nu ist er überflogen, der halb verschüttete Graben überschritten, ohne auf die Hilfe der Sappeurs zu warten, die Abdachung der Wälle erklommen und der Zuave Lihaut vom ersten Regiment, dem Mac-Mahon die Commandofahne anvertraut, pflanzt sie im ersten Anlauf auf den Wällen des Malachof auf; um sie sammeln sich die emporklimmenden Tapfern.
Die Russen sind bestürzt – überwältigt, die Brustwehr ist nur mit den Mannschaften der Artillerie besetzt, die an ihren Stücken niedergestoßen werden. Das ganze Innere des Malachof, bis auf den Kurgan – die Trümmer des allen Thurmes – ist mit hohen Traversen durchzogen, hinter denen die Soldaten Schutz gegen das Bombardement gesucht. Vereinzelt stürzen die Compagnieen des Regimentes Praga daraus hervor – ihr tapferer Kommandant Oberst Freund wirft sich mit ihnen dem Feinde entgegen und stürzt verwundet; es ist ein Zusammenstoß Mann gegen Mann, die russischen Offiziere, den Degen in der Hand, stürzen sich auf das Parapet, mit Wort und Geberde ihre Soldaten zum Widerstand ermunternd. Einer nach dem Andern sinken sie unter den Kugeln, die aus nächster Nähe auf sie gerichtet werden – aber der Kampf entbrennt jetzt am ganzen Wall. Man ringt Leib an Leib mit einander in wilder Wuth, das Bajonnet ist unnütz geworden, man schlägt sich mit Kolben und Steinen nieder, mit Schaufeln, Protzstangen und Holzstücken, die man von den Geschützblendungen abreißt.
Doch Schaar auf Schaar dringt in das Innere der Bastion ein und das Regiment Praga wird geworfen. –
Die 5. Division unter de la Motterouge hat ein schwierigeres Terrain, als die Stürmer des Malachof, doch steht sie bald in geschlossenen Massen an der Front der Courtine und nimmt im Anlauf die Batterie von 6 Geschützen de la Poterne, welche den Malachof flankirt. Während die Kanoniere die Geschütze vernageln, dringt die Infanterie gegen die zweite Vertheidigungslinie vor. Das Kartätschenfeuer der Russen schmettert die Spitzen der Colonnen und ganze Reihen nieder, aber Nichts hemmt ihren Lauf. Sie ersteigen die Brüstungen, die Kanoniere werden an ihren Stücken erschlagen und die zweite Linie ist erobert, das 11. Regiment dringt bis an die Thore der Vorstadt!
Die Division Dülac hat im ersten Anlauf den kleinen Redan – die (Thurm-) Bastion II. – genommen, trotz des furchtbaren Kartätschen- und Musketenfeuers, das Regiment Olonetz zurückgeworfen, einen Theil der Geschütze vernagelt und bereits die zweite Verteidigungslinie und den Uschokowaja-Grund erreicht, der kurz zur Rhede führt. Aber hier wirst sich den Eingedrungenen der[398] Major Jaroschewitz mit einem Bataillon des Regiments Bzelofersk entgegen und mit dem Bajonnet sie bis über die Brustwehr zurück.
Das Glück der Schlacht wendet sich, die Russen sind nur überrascht, nicht überwunden. Die Zurückgedrängten sammeln sich unterm Schutz der in den Ravins des Uschokowaja- und Apollo-Grundes gelagerten Reserven. Zwanzig bespannte Feldgeschütze fliegen herbei und eröffnen ihr Feuer, die Batterieen des Nordufers werfen Bomben in die Colonnen, die drei Dampfer Wladimir, Chersones und Odessa legen sich in die Kilenbucht und schleudern einen Tod und Verderben sprühenden Kartätschenhagel auf den Feind. Die französischen Brigaden wanken, sie wenden sich – vergebens suchen sie sich am schnell verrammelten Eingang des Redan zu halten, – dann in den Gräben, – erst an der ersten Linie der Courtine machen ihre Verfolger Halt. Hier formiren sich die Franzosen auf's Neue, abermals wirbeln die Trommeln zum Sturm und der Kampf um den Redan beginnt zum zweiten Mal. General Saint-Pol fällt, General Bisson ist schwer verwundet, wiederum wanken die Angreifer, als die Reserve-Brigade Marolles herbei eilt und zwei Grenadier-Bataillone der Garde unter Pontèves von General Bosquet zu Hilfe gesandt werden, den gleich darauf ein Bombensplitter auf seinem gefährlichen Posten an der rechten Seite trifft und betäubt zu Boden wirst. Für einen Augenblick sind nochmals die Parapets und Batterieen des Redans in den Händen der Franzosen.
Aber die Russen wissen sehr wohl, daß der Verlust des Redan die Möglichkeit eines Rückzugs über die Schiffbrücke in Frage stellt. General-Major Sabaschinski mit 3 Regimentern der 8. Infanterie-Division wirft den Feind zurück, drei Mal wiederholt sich der Angriff, drei Mal müssen die Franzosen unter dem furchtbarsten Feuer weichen. Die Generale Marolles und Pontèves, der tapfere Führer der Garden, dem Pelissier den blutigsten Posten versprochen, opfern ihr Leben, fast sämtliche Führer der Compagnieen der Linie sind gefallen – es bleibt Nichts übrig, als der rascheste Rückzug nach dem Graben der Courtine.
Das Schlüsselburger Jäger-Regiment, das von General Chruleff gesandt, dem Redan zu Hilfe eilt, findet die Arbeit bereits gethan und wendet sich gegen die Courtine. Vergebens versuchen die Franzosen auch dort den schnell errungenen Sieg zu behaupten, vergebens rasseln, von Bosquet letztem Befehl herbeigerufen, die an der Victoria-Batterie aufgestellten Feldgeschütze über ein Terrain heran, welches das Feuer der Russen vollkommen beherrscht, protzen im heftigsten Kugelregen ab, der binnen wenig Minuten zwei Drittheil der Offiziere und Mannschaften niederwirft, und beginnen ein Feuer, das endlich die Kriegsdampfer nöthigt, sich zurückzuziehen; – die Schlacht ist auf dieser Flanke verloren und die Division de la Motterouge vermag, nachdem auch der Führer der Garde-Reserven,[399] General Mellinet, verwundet ist, sich nur kurze Zeit noch in der ersten Enceinte der Courtine zu halten.
General Dülac hat das Kommando in Stelle Bosquets übernommen, der durch die schwere Wunde endlich genöthigt ist, die Kampflinie zu verlassen und sich auf einer Tragbahre nach der Lancaster-Batterie bringen zu lassen. Auch auf der linken – der westlichen – Seite der Stadt sind die Franzosen nicht glücklicher. Der Hauptsturm auf die Central-Bastion (V.) mißglückt, trotz der Aufopferung der Offiziere und Soldaten, ein Angriff der Mast-Bastion wird unmöglich, jeden Augenblick demaskiren die Russen neue Batterieen, Flatterminen zerreißen den Boden unter den Füßen der Stürmenden; die Generale Breton und Rivet fallen, General Trochu wird schwer verwundet, die Fremdenlegion fast vernichtet und de Salles muß den Befehl zum Rückzug geben in das Innere der vorgeschobenen Waffenplätze. Der russische Ober-Commandant General Graf Osten-Sacken überzeugt sich selbst von dem Sieg der Seinen auf dieser Seite und eilt dann hinüber zu jener Stelle, wo sich das Schicksal des Tages entscheiden muß.
Das ist der Malachof.
Die Zuaven und algierischen Jäger haben bei dem Angriff auf die Batterie Gervais das Jägerregiment Großfürst Michael zurückgedrängt, der Zuave Lebrigaud ist der Erste auf dem Wall und wird schwer verwundet von seinen Kameraden zurückgetragen. Die Franzosen haben sich auf dem verschütteten Graben festgesetzt und schießen durch die Embrasüren, aber das Kostrana'sche Jäger-Regiment eilt der Batterie zu Hilfe, die Kanonen der linken Seite des großen Redan vertreiben die Angreifer von der Batterie Gervais; ein Befehl Mac-Mahons ruft sie zur Unterstützung der Franzosen im Malachof.
Da diese sich hier festgesetzt, geben um 121/2 Uhr drei Raketen aus der Victoria-Batterie den Engländern das Zeichen zum Angriff auf den großen Redan. Sie haben eine breite Fläche aus ihren Trancheen zu überschreiten und das Kartätschenfeuer der Russen decimirt ihre aufgelösten Reihen. Die Anstalten der Engländer sind so schlecht getroffen, daß sich kaum 1500 Mann zum Sturm entwickeln, während ihre Reserven unthätig in den Laufgräben bleiben. Nur Wenige übersteigen die Brustwehr und versuchen die Faschinen auf den Backen der Embrasüren anzuzünden; das Wladimir'sche Regiment, anfangs zurückgedrängt, aber bald unterstützt durch Compagnieen der Regimenter Kamtschatka und Jakutsk wirst die Briten mit dem Bajonet zurück, und das Feld mit ihren Leichen besäend, fliehen diese nach den Trancheen zurück.
Die Schlacht ruht auf dem linken Flügel der Franzosen und auf der Stellung der Engländer, nur um den Schlüssel von Sebastopol, um den Malachof, wird mit gesteigerter Wuth gekämpft.
Der Zuaven-Unteroffizier Lihaut hat die ihm vertraute Fahne auf der Stelle vertheidigt, auf der er sie aufgepflanzt, – von[400] 42 Büchsen- und Musketenkugeln, von drei Kanonenschüssen wird sie zersplittert und zerfetzt, aus fünf Wunden blutet der Held und dennoch wankt und weicht er nicht von seinem Posten. Um ihn haben sich die Kameraden gesammelt und stürmen gegen den Feind; Oberst Collineau, der Kommandeur des Regiments ist am Kopf verwundet, aber die Russen sind bis an die Kehle des Werks geworfen, wo sich rasch die algierischen Schützen in einem Verhau festsetzten.
Jetzt stürmen die Russen wieder heran, Graf Wassilkowitsch, der heimtückische boshafte Mann, schlägt sich wie ein Held im Innern der Bastion in der Nähe des alten Thurms, auf welchem die Schützen postirt sind und ein gefährliches Feuer unterhalten. General-Lieutenant Chruleff selbst stellt sich an die Spitze des Regiments Ladoga und stürmt gegen die Kehle der Korniloff-Bastion; er wird in diesem Augenblick verwundet. General-Major Lisenko übernimmt das Kommando und fällt, schwer getroffen, im Eingang der Redoute – General-Major Inseroff läßt sich an der Spitze der andringenden Regimenter tödten – General-Lieutenant Martineau wird schwer verwundet – vier Mal stürmen die Colonnen der Russen, das Bollwerk Sebastopol's wieder zu erobern – vergebens! – immer neue dichte Massen der Franzosen stürzen sich in die eroberte Bastion, die Brigade Vinoy, – das dritte Zuaven-Regiment, der Rest der Reserven – Mac-Mahon selbst übersteigen den Wall, zu seinen Füßen wird der tapfere Oberst de la Tour du Pin von einem Wurfgeschoß zerrissen; man kämpft mit dem Bajonnet, mit den Zähnen, mit der Faust, der Fuß gleitet auf Strömen von Blut und Bergen von Leichen!
In den bereits erwähnten Trümmern des ehemaligen Kurgan des Malachof, nahe dem Ausgang, die durch das crenellirte Erdwerk und die soliden Blendungen eine kleine Festung im Innern der Bastion bilden, kämpft mit Glück ein junger russischer Offizier mit etwa 60 Mann, darunter zwei Greise, der Eine in der Tracht der Kosaken, der Andere von riesiger Gestalt in dem Rock der Druschinen. Auf diesen Kurgan stützen sich die letzten Kämpfe der Russen, in seiner Nähe vertheidigt General-Major Wassilkowitsch noch immer die Batterie nach der Seite des Redan. Das mörderische Feuer aus den Schießscharten dieser kleinen Bollwerke erregt die Aufmerksamkeit des Generals Mac-Mahon und er befiehlt dem Obersten des dritten Zuaven-Regiments, sie und die Batterie zu ihrer Seite zu nehmen. Aus die Letzere stürzt sich die Masse – ein Säbelhieb des Colonel verwundet den alten Feind, der ihm gegenübertritt, Graf Wassilkowitsch, von den Seinen geführt, wird mit dem Rest der Russen bis an die Kehle der Bastion gedrängt.
Er erhebt sein Tuch – er winkt hinüber nach dem Kurgan, auf dessen Brustwehr der Greis in der Druschinen-Tracht mit einem Kanonenwischer die stürmenden Zuaven niederschlägt.
Der Alte sieht das Zeichen – er springt zurück – durch[401] die breit von einer Kanonenkugel zerrissene Blendung sieht man ihn mit der Rechten eine Lunte schwingen, mit der Linken eine Steinplatte zur Seite werfen.
Da stürzt sich eine jugendliche Gestalt, blutend bereits aus zwei Wunden, zwischen ihn und die Öffnung und sucht ihn zurückzudrängen – gleich einem Kinde schleudert sie der fanatische Alte zurück – er hat das Zeichen gesehen, das ihm der Graf gegeben, und will sein Versprechen erfüllen, er beugt sich vor, er hebt die Lunte – da – im letzten Augenblick reißt der junge Offizier das Pistol aus dem Gürtel und sein Schuß streckt den Alten zu Boden. Sein eignes Blut hat Michael, den Tabuntschik, getödtet und den Mord des Kaisers gerächt. Der Hand Iwan Özakoff's entfällt das Pistol, sein Auge trifft den Vicomte auf der überstiegenen Brustwehr, den seine That am eigenen Volk gerettet, und er verliert das Bewußtsein, während die Zuaven die letzten Vertheidiger des Kurgan hinaustreiben zu Wassilkowitsch's flüchtender Schaar.
Die Sappeure stürzen sich auf die Öffnung, deren bedeckenden Quader der Tabuntschik gehoben, und entdecken einen Luntengang in die Tiefe, – ihre Schaufeln und Äxte reißen quer vor dem Kurgan die Erde auf und finden noch zwei electrische Dräthe: – das untere Gewölbe des Kurgans ist mit 40000 Kilogrammen Pulver gefüllt, und die Lunte des Roßhirten hätte glorreich die Schreckensthat seiner Jugend gesühnt, wenn die Liebe nicht triumphirt hätte. –
Hinter der Kehle der Bastion entspinnt sich ein neuer Kampf zwischen den verfolgenden Franzosen und den Russen, deren Verstärkungen zu einem letzten Versuch herandringen. Dem von zwei Soldaten zurück geführten General-Major Wassilkowitsch begegnet eine eben herbei eilende Compagnie des Schlüsselburger Jäger-Regiments – Spielwerk der Hölle: – an ihrer Spitze Iwan Oczakoff, dessen That im Malachof er eben verflucht. Der Verwundete stürzt auf ihn zu: »Verräther, wo kommst Du her, ich sah Dich blutend sinken im Malachof nach Deiner schändlichen That?« – »Im Malackof, mich? ich focht am Redan!« – »Lügner, Dich selbst oder Dein Ebenbild – –« Der junge Offizier faßt ihn an – wie ein Blitz zuckt es durch seinen Geist, die Worte, die Annuschka gesprochen, die Erinnerung an die Schwester, die er im Drang der Gefahr ganz vergessen – die Erinnerung an sein Ebenbild im Lager am Sapun, dessen Wort ihn zuerst geweckt aus der geistigen Nacht – eine Schlußreihe von Gedanken in einem Augenblick – »Allmächtiger Gott – Iwanowna an meiner Stelle!« – Der Graf starrt ihn einen Augenblick an, auch ihm wird mit Blitzesschnelle die Überzeugung: »Verflucht sei die Metze, die, um ihren Buhler zu retten, Rußland's Sieg geopfert hat!« – Blutiger Schaum stürzt aus seinem Mund, während Iwan Oczakoff ihn von sich stößt und davon stürmt.
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Auf seinem Arme hat der alte Kosaken-Häuptling den jungen Offizier des Kurgan aus den Leichenhaufen getragen und lehnt ihn in einem Winkel der Bastion an die Wand, beschützt von Méricourt und dem Sergeant-Major Fabrice. An der Seite des Bewußtlosen knieet Nini, die Marketenderin, seinen Kopf auf ihrem Schooß – sie reißt, schreiend vor Angst und Schmerz um den geliebten Flüchtling, die Uniform ihm auf – eine volle üppige, blutüberströmte Frauenbrust quillt ihr entgegen, enthüllt sich allen Blicken! – »Barmherziger Gott – Iwan – Iwanowna!« tönt auch hier der Schrei des Colonels – – da rast es herbei, die Menschenwoge der Franzosen, geworfen auf dem äußern Abhang der Bastion und die tapfern Feinde dringen ihr nach durch die Kehle des Werks noch ein Mal in das Innere des Malachof! Ein Schlachten, ein Würgen ringsum! An der Spitze seiner Jäger stürmt Iwan Oczakoff auf die weichenden Zuaven, – das Auge der Marketenderin trifft auf die bekannte Gestalt, das bleiche Gesicht; sie fährt empor –: »Das ist der Rechte! Jean! Jean, zu mir!« Da knallen die Büchsen der russischen Jäger – da schlagen die Kugeln ein in nächster Nähe in die Hausen der Franzosen – ein einziger herzzerreißender Schrei und auf die Stelle, wo Iwanowna's Haupt in ihrem Schooß gelegen, stürzt mit zerrissener Brust todt die treue Marketenderin. Über den jugendlich schönen Leib hinweg wogt und stürmt der Kampf; – der alte Jessaul hat den Augenblick benutzt, den Körper Iwanowna's über seine Schultern geschwungen und ist mit ihm in den Reihen der Seinen.
Da kracht es und hebt es sich, als wollte die Erde sich gegen den Himmel bäumen, als wären ihre Grundfesten gelöst, der Himmel selbst erzittert, dichte Rauch- und Staubwolken wälzen eine Nacht in den hellen Tag, Trümmer, zuckende Glieder fliegen umher – beide Heere stehen entsetzt und glauben dennoch den Malachof in die Luft geflogen und Tausende in seinen Werken und den Reduits begraben.
Allmälig sinken die Staubwolken, der Malachof steht, hoch von seinem Wall flattert noch keck die Tricolore, – nur die Batterie de la Poterne an der Flanke der Courtine und der Bastion ist gesprengt, das Pulvermagazin durch die brennenden Faschinen entzündet worden.
Einen Augenblick noch stehen erschüttert die Gegner – aber schon haben sich die Franzosen gesammelt.
Neue Massen der Sieger des Malachof stürmen heran – die Russen werden geworfen und retiriren in dunklen Haufen aus der Kehle der Bastion, die rasch mit Faschinen geschlossen wird – auch der letzte Versuch ist gescheitert – der Malachof verloren.
General Osten-Sacken erkennt, daß die Wiedernahme der Bastion eine Armee kosten würde – er beschließt, seinen geheimen Instructionen gemäß, den Sieg auf allen anderen Punkten und die Erschöpfung des Feindes zu benutzen, um die Südseite der Stadt[403] zu räumen, die nach dem Verlust des Malachof nicht mehr zu halten ist. Er befiehlt daher dem General-Lieutenant Schepelieff, ohne einen Angriff auf die Kornilowski-Bastion weiter zu versuchen, den Feind daran zu verhindern, von dort in die Stadt zu debouchiren, und bis zur Nacht die zerstörten Gebäude auf dem nördlichen Abhang des Hügels zu halten. –
Aber nur ein Trümmerhaufe soll in die Hände der Feinde fallen, wie vor 43 Jahren nur die Brandstätte von Moskau den Cohorten des ersten Napoleons überlassen ward.
Von 5 Uhr ab ist der Kampf nur noch durch die Artillerie unterhalten worden. Bei Eintritt der Dämmerung bemerkt man die dunklen Colonnen der Russen über die Schiffbrücke von der Nicolaus-Bastion nach der Sievernaja in ununterbrochener Reihe ziehen. Im Innern des Malachof sind, bereits durch Menschenhände herbeigeschafft, acht Coehorn-Mörser zur Beschießung bereit, mehrere russische Geschütze wieder in Stand gesetzt und General Thiry, der Chef der Artillerie, giebt Befehl, die Brücke zusammen zu schießen.
Aber nur wenige Schüsse fallen, als ein Adjutant des Generalissimus herbeistürmt und den Befehl überbringt, das Feuer einzustellen und den Rückzug der Russen nicht weiter zu hindern. Graf Lubomirski hat sein Versprechen gehalten und Pelissier, ihn verwünschend, alle Verfolgung aufgegeben. Ohnehin wäre sie kaum möglich gewesen, denn Explosion auf Explosion zeigt, wie der abziehende Gegner seine Vertheidigungswerke, seine Pulvermagazine und Gebäude, so wie er sie verläßt, in die Luft sprengt. Rothe Flammenmassen wirbeln an hundert Punkten zum Nachthimmel empor. – – –
Doch die ersten Schüsse auf die Brücke haben noch einige Opfer gekostet. Vergebens hat Annuschka, die junge Wittwe, nach der Sievernaja zu gelangen versucht, den ihr anvertrauten Brief zu bestellen. Truppen, zu den Wällen eilend, füllen die Brücke – sie eilt zurück zum Fort Paul – aber kaum hat sie es erreicht, so verbreitet sich die Nachricht, daß die Franzosen den Malachof genommen haben und in die Stadt dringen. In Todesangst, während Nursädih sich zu folgen weigert, ergreift sie das ihr anvertraute Kind und stürzt auf die Straßen, die zur Brücke der Südbucht und der westlichen Stadt führen, als ein Name mitten in den drängenden Hausen der Soldaten und Bewohner ihr Ohr erreicht: »Meyendorf – Capitain Meyendorf!« Sie faßt die Hand des Offiziers – sie fragt ihn – er ist der Gesuchte und sie übergiebt ihm den Brief, indem sie um seinen Schutz bittet. Aber die Massen trennen sie wenige Augenblicke darauf und vor dem Hagel der Kugeln flüchtet Annuschka unter den Vorsprung eines Hauses, wo ein abgesprengter Stein ihre Stirn trifft und sie bewußtlos und blutend niederwirft.
Capitain Meyendorf hat noch keinen Augenblick gefunden,[404] den ihm so dringend übergebenen, Brief zu lesen; erst als die ersten Colonnen über die Brücke zur Sievernaja ziehen, benutzt er einen günstigen Augenblick, ihn zu öffnen. Noch hat er die ersten Zeilen kaum überflogen, als ihn ein Splitter einer der vom Malachof geworfenen Bomben am Kopf trifft. Er fällt dicht zur Seite des Oberstkommandirenden – sein letzter Laut ist ihr Name – dieselbe Stunde hat sie vereinigt im Himmelreich! –
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Es ist Nacht. Der Riesenbrand des Nicolas-Fort zeigt, daß die Pontonbrücke bereits abgebrochen worden – von Zeit zu Zeit noch fliegt ein Pulvermagazin in die Luft – die Zahl der gesprengten beträgt fünfunddreißig.
Zehntausend Leichen – darunter 4 russische und 5 französische Generale – decken das Schlachtfeld. Jede der beiden Partheien zählt überdies eine gleiche Anzahl Verwundeter oder Vermißter. Von der französischen Garde, die in's Gefecht gekommen, ist die Hälfte getödtet und verwundet. An einzelnen Stellen, vor dem Redan, an der Kehle des Malachof, liegen die Leichen zu Hügeln gethürmt.
Während die Artillerie und das Genie arbeitet, Batterien zu errichten und die Befestigungen herzustellen, tragen die Soldaten die Leichen in Haufen zusammen und die Chirurgen verrichten bei Fackelschein ihre blutige Arbeit.
Ein Mann – erschöpft – hat diese verlassen und tritt zu einer Gruppe an den Ruinen des Kurgan. Ein Zuaven-Burnus deckt einen am Boden liegenden Körper – es ist Nini's Leiche, deren kalte Hand winselnd Minette, die kleine Katze des Sergeant-Majors, leckt. Der Alte selbst sitzt kummervoll neben der Marketenderin – sein Arm ist zerschmettert und erst flüchtig verbunden, aber er will die Todte nicht verlassen, bis die Kameraden am Morgen sie holen.
Neben ihm, an die Trümmer des Kurgan gestützt, steht Bourdon, der Sergeant, unverletzt im dichtesten Kampfgewühl, die Augen finster, thränenleer auf den Körper zu seinen Füßen gerichtet. Colonel Méricourt spricht mit Jussuf, dem Mohren; – er ist mehrfach, aber leicht verwundet und nach dem Zurückführen des Regiments, dessen Commando er dem einzigen unverletzten Capitain übertragen, in den Malachof zurückgekehrt.
Welland, der trotz seiner schimpflichen Entlassung seine Pflicht als Arzt erfüllt hat, reicht dem Freunde die Hand, er hat bereits den größten Theil der Ereignisse des Tages erfahren. Der Colonel bittet ihn, einem jungen Russen seine Hilfe angedeihen zu lassen, den Jussuf, durch die Nennung seines Namens aufmerksam gemacht, an der Kehle des Werkes aus den Leichenhaufen hervorgezogen. Es ist Olis, der Kosak Iwans, oder vielmehr Iwanowna's, der an der Seite des jungen Fürsten – der Letzte der sechs Brüder – gefallen. Der Arzt erkennt bald, daß menschliche Hilfe[405] hier vergeblich, und sucht nur den Tod des Armen nach Kräften zu erleichtern. Man hat ihn neben Nini gebettet.
Dann erklärt Jussuf, der Mohr, seinem Herrn den Entschluß, in die brennende Stadt hinabzusteigen, deren Wege er kennt und bis zum Paul-Fort vorzudringen, wo – wie ihm der Sterbende beschrieben – die Schwester und die Fürstin gewohnt. Eine drängende Ahnung der Seele treibt den Vicomte zur Begleitung an – auch der Arzt erbietet sich dazu, nachdem er sich einige Augenblicke erholt. Russische Soldatenmäntel, um sie im Innern der Stadt unkenntlich zu machen, sind leicht herbeigebracht von den zahllosen Leichen. Als die Gesellschaft das Werk verläßt und Méricourt die ausgestellten Posten mit dem Paßwort befriedigt, gesellt sich stumm, aber entschlossen, Sergeant Bourdon zu ihr.
Es ist ein furchtbarer Gang. In der Nähe der Schlachtfelder Leichen auf jedem Schritt; zwischen Trümmern und verstreuten Kugeln, demontirten Geschützen und Munitionskarren schreitet man vorwärts in ein Chaos der Zerstörung. Aber je weiter man vordringt – die russische Armee scheint verschwunden, nur die dunklen Gestalten einzelner Marodeurs schleichen umher, schmerzliches Stöhnen eines Verwundeten und Zurückgelassenen dringt hier und da an ihr Ohr. Brennende Magazine beleuchten von Zeit zu Zeit ihren schaurigen Weg – der Donnerschlag einer aufgesprengten Batterie auf der Westseite zeigt ihnen, daß der Feind wenigstens noch thätig ist in der aufgegebenen Stadt.
So – im Schutz der Dunkelheit oder der grellen Feuersbrunst, der allgemeinen Verwirrung und Zerstörung, die nicht nach Freund und Feind fragen läßt, und in der bergenden Verhüllung ihrer Platschtsch's – gelangen die kühnen Männer, in den Abhängen an der Schifferbucht sich haltend, in die Nähe des Pauls-Forts. Der Umstand, daß es noch nicht gesprengt oder angezündet, beweist, daß man es noch nicht gänzlich aufgegeben, daß noch menschliche Wesen darin sind. Jussuf schleicht sich voran, die Gefährten in einem Versteck zurücklassend; bald kehrt er wieder, er ist auf keine Gefahr gestoßen, nur auf entsetzliches Leid – und winkt ihnen zu folgen.
Sie gelangen glücklich in den ersten Hof und durch diesen in eine Höhle der Verwesung und des Jammers, in die Lazarethe.
Von allen Schrecknissen des Krieges, die sie erlebt, ist dieser Anblick der schrecklichste, herzbrechendste. Lange Reihen von Verwundeten, mit Todten, ja bereits Verwesenden abwechselnd, haben als rettungslos zurückbleiben müssen – faulende und verfaulte Körper in ihrem letzten Todeskampf, dicht an einander gedrückt – ohne Beistand, ohne Pflege, die Einen auf der Diele, die Andern auf elenden Bettstellen oder blutgetränkten Strohbunden, aus denen ekle Flüssigkeit sickert. Die Mauern, das Dach des Saales, von Bomben gespalten – liegen sie da, die Unglücklichen – Viele noch lebendig, während die Maden bereits an ihren Wunden nagen;[406] Andere halb wahnsinnig vor Schmerz und Leiden, haben sich dem Eingang zugewälzt, um der Hölle zu entrinnen, und deuten sterbend, um einen Tropfen Wasser flehend, auf ihre Todeswunden. Der beengende Leichengeruch, dieser Gestank von brandigen Wunden, verpestetem Blute, verwesendem Fleische ist grausenhaft über alle Begriffe – selbst der Arzt, der die türkischen Lazarethe an der Donau gekannt, schaudert im tiefsten Grauen – Méricourt verhüllt das Gesicht. »All' dies unsägliche Elend – für welchen Zweck?!« – Endlich gelangen sie in den zweiten Hof – zu der Reihe der kasemattirten Wohnungen. Sie wagen es nicht, eine der wenigen, still und verdrossen umherwandernden Gestalten anzusprechen, um sich nicht zu verrathen – Stube auf Stube durchsuchen sie – alle sind leer, oder die Bewohner stumm – auf ewig.
Endlich deutet der Arzt auf ein Licht, das aus dem Gitterfenster einer Mauer leuchtet – man findet die Thür und öffnet sie – ein leiser monotoner Gesang, eine jener Todtenklagen summt ihnen entgegen, die melancholisch fallende Melodie der Steppenvölker des Ostens; – sie treten ein: auf einem Feldbett ruht eine halb verhüllte Gestalt, zu ihren Füßen schläft ein kleines Mulattenkind, eine schwarze Frauengestalt kniet daneben und am Kopfende murmelt Iwan der Jessaul, Iwan der Steppenteufel seine Todtengebete. Der Schein einer Lampe fällt auf das Gesicht der Gestalt auf dem Lager – hellbraune Locken umgeben das bleiche Oval, die festgeschlossene Lippe, das volle Kinn – den schönen Schwung des Gesichts – den halb entblößten Frauenbusen – es ist Iwanowna, und der Colonel stürzt an ihre Seite und bedeckt die kalte Hand mit Küssen.
Noch eine andere Scene hat sich im gleichen Augenblick ereignet; – von dem Bruder, der sie emporhebt, gleitet der thränenschwere Blick des armen Mohrenmädchens auf den deutschen Arzt. Da stammelt sie seinen Namen, reißt sich los von dem Bruder und streckt Jenem das schlafende Kind entgegen. Er zaudert, er sieht sie mit verwunderten Blicken an, bis sie, mit der Linken das Kind an ihre Brust gepreßt, ihn mit der andern Hand in den Strahl der Lampe zieht und diese Hand ihm entgegenhält – auf dem vierten Finger der schwarzen Hand glänzt ihm der Granatreif, das Geschenk seiner Schwester, entgegen, den er der Unbekannten gegeben, die in der süßen Nacht von Madara sein Lager getheilt.
Die Wahrheit überkommt ihn mit überzeugender Gewalt, und er drückt Weib und Kind an die Mannesbrust.
Die Todtenklage des Jessaul ist verstummt; flammenden Auges, Angst, Entzücken in allen Zügen, reißt der Colonel den Freund aus den Armen der schwarzen Sclavin zum Lager Iwanowna's – und legt seine Hand auf den Marmor-Busen, den so eben seine Lippen berührt. Der erfahrene Arzt fühlt sofort den leisen Schlag des Herzens, das noch pulsirende Leben. Sein Wink entfernt die Anwesenden mit Ausnahme Nursädih's und seine geschickte Hand[407] beginnt sofort die Untersuchung der Wunden, die nur unvollständig verbunden sind. Nursädih erzählt ihm, daß der alle Jessaul die Fürstin bis in das Fort gebracht, daß Iwan, ihr Bruder, in rasender Leidenschaft, all' ihre unendliche Aufopferung vergessend, mit einem Fluch sie dem Tode überlassen, weil sein Ebenbild Schmach auf seinen Namen gehäuft und der Rettung des Feindes ihres Volkes die Rettung Sebastopols geopfert habe, – und daß sie, erschüttert, mit gebrochenem Herzen, wieder in jene tiefe Ohnmacht gefallen, die die Unkundigen für den erlösenden Tod gehalten.
Nach kaum zehn Minuten kann der Arzt dem Freunde die Versicherung bringen, daß keine der Wunden des hochherzigen Mädchens tödtlich ist, daß nur der starke Blutverlust ihren gefährlichen Zustand veranlaßt hat. Eine rasche Berathung der Männer folgt: die Möglichkeit einer Rettung Iwanowna's liegt in ihrer Entfernung aus dem Fort und man beschließt, sie zu versuchen. Eine Tragbahre ist rasch aus dem Lazareth herbeigeschafft und von liebenden Händen geordnet. Der Jessaul, dem der Colonel durch Nursädih volle Freiheit, zu gehen und zu kommen, zusichert, will Die nicht verlassen, die er so lange bewacht. Er und der Mohr nehmen die Trage, an deren Seite der Arzt und der Colonel sorgsam über die Bewußtlose wachend gehen, während Nursädih voran den nächsten Ausweg in die Stadt zeigt, ohne das Lazareth nochmals zu berühren, und der Zuaven-Sergeant den Rückzug deckt. Die Hand des allmächtigen Gottes ist über ihnen in den Gefahren der brennenden Stadt, der explodirenden Minen, und als die erste Morgendämmerung über den Höhen von Inkermann dämmert, sind sie bereits im Schutz der französischen Posten.
François Bourdon, der tapfere Zuave, ist nicht allein, auf seinem Arm trägt der Tapfere ein junges Kind, dessen leises Wimmern ihn auf dem Wege durch die Straßen unter die Halle eines halb zerstörten Hauses gelockt und das der leicht zum Mitleid bewegte Soldat aus den Armen einer blutbedeckten erstarrten Frau genommen. Er bringt das Kind dem Regiment als Ersatz für die jetzt todte Schwester!
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Es ist wiederum Mittag – auf dem Malachof-Hügel sitzen, drei Männer, ernst und düster auf die zerstörte Stadt, auf die blaue Rhede schauend, von der die mächtige Kriegsflotte des Pontus, der Stolz Rußland's, verschwunden ist, verbrannt, versenkt in die Tiefen des Meeres, das sie so lange beherrscht. Noch dampfen und rauchen die Ruinen der Stadt, noch donnert in langen Zwischenpausen eine einzelne Explosion und von den Nordforts herüber dröhnt von Zeit zu Zeit ein warnender Schuß.
Einzelne Haufen plündernder Soldaten sind bereits in die Vorstadt hinabgestiegen, aber noch wagen nur Wenige, weiter vorzudringen, obgleich man die Stadt jetzt vom Feinde verlassen weiß.
Tausende sind beschäftigt, weite Gräber zu graben, in denen[408] die erbitterten Gegner friedlich neben einander schlafen sollen, bis ein anderer Trompetenstoß sie weckt – zum ewigen Weltgericht. Man muß eilen mit den Leichen, denn die Sonne des Südens brennt verwesend und giftige Fliegenschwärme umsummen bereits die Todten.
Am Fuße des Malachof-Hügels, zu Füßen der drei Männer, graben Zuaven ein einzelnes Grab – an dessen Seite harmlos ein zweijähriger Knabe spielt. Es ist Nini's Grab, und die Hand des Bruders bettet sie in den Schooß der Erde. Wie Kinder schluchzen die bärtigen wilden Gesellen, die gleichmüthig als Loos der Schlachten tausend tapfere Kameraden an ihrer Seite fallen sahen. –
Die Augen der drei Männer am Hügel schweifen über die Gräber und über die Trümmer – suchend und suchend – vielleicht bis der Tod sie selbst nimmt. Der Eine hat auch den Liebling vor wenig Stunden in die Erde gebettet – er schaut jetzt nach dem Letzten seiner Enkel, welches der weiten Gräber vielleicht ihn birgt – denn allein ist Fürst Iwan aus dem Kampfe zurückgekehrt! – Der alte Pole an seiner Seite sucht den Einzigen, den Knaben seines Herzens, und sein greises Auge sieht hinüber nach den Felswällen der Sievernaja, als könne es sie durchdringen und erkunden, ob sie den Geretteten bergen? – Der Dritte – der stolze Baronet, schaut mit gefalteten Händen, mit unstätem, verzweifelndem Blick auf die riesige Trümmer- und Todesstätte und ahnt nicht, wie nahe ihm das Ersehnte, wenn die strafende Hand Gottes den Schleier von seinem Auge nehmen wollte.
Drei Männer – Männer im Sturme des Lebens! – die ihr Theuerstes verloren und zu ihren Füßen die Gräber und die Trümmer Sebastopols!
Suchet! – Suchet! – Suchet! –
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