1820

[291] Nachdem wir den 29. März eine Mondverdunklung beobachtet hatten, blieb die auf den 7. September angekündigte ringförmige Sonnenfinsternis unser Augenmerk. Auf der Sternwarte[291] zu Jena wurden vorläufige Zeichnungen derselben verfertigt; der Tag kam heran, aber leider mit ganz überwölktem Himmel. In dem Garten der Prinzessinnen waren Einrichtungen getroffen, daß mehrere Personen zugleich eintreten konnten. Serenissimus besuchten ihre lieben Enkel zur guten Stunde, das Gewölk um die Sonne ward lichter, Anfang und Mitte konnten vollkommen beobachtet werden, und den Austritt, das Ende zu sehen, begab man sich auf die Sternwarte, wo Professor Posselt mit andern Angestellten beschäftigt war. Auch hier gelang die Betrachtung, und man konnte vollkommen zufrieden sein, während in Weimar ein bedeckter Himmel jede Ansicht vereitelte.

Auf einer Reise nach Karlsbad beobachtete ich die Wolkenformen ununterbrochen und redigierte die Bemerkungen daselbst. Ich setzte ein solches Wolkendiarium bis Ende Juli und weiter fort, wodurch ich die Entwicklung der sichtbaren atmosphärischen Zustände aus einander immer mehr kennenlernte und endlich eine Zusammenstellung der Wolkenformen auf einer Tafel in verschiedenen Feldern unternehmen konnte. Nach Hause zurückgekehrt, besprach ich die Angelegenheit mit Professor Posselt, welcher daran sehr verständigen Teil nahm. Auch wurden nunmehr von Eisenach Wetterbeobachtungen eingesendet. Von Büchern förderte mich am meisten Brandes' »Witterungskunde« und sonstige Bemühungen in diesem Fache. Dittmars Arbeiten wurden benutzt, freilich nicht in dem Sinne, wie es der gute Mann wünschen mochte.

Das Botanische ward nicht außer Augen gelassen; der belvederische Katalog kam zustande, und ich sah mich dadurch veranlaßt, die Geschichte der weimarischen Botanik zu schreiben. Ich ließ hierauf ein französisches Heft übersetzen, das in galantem Vortrag die Vermehrung der Eriken anriet und anleitete. Jäger, »Über Mißbildung der Pflanzen«, de Candolle, »Arzneikräfte« derselben, Henschel, »Gegen die Sexualität«, Nees von Esenbecks »Handbuch«, Robert Brown, »Über die Syngenesisten«, wurden sämtlich beachtet, da ein Aufenthalt[292] in dem Botanischen Garten zu Jena mir dazu die erwünschteste Muße gab.

Bedeutender Honigtau wurde auf der Stelle beobachtet und beschrieben. Herr Dr. Carus teilte von einem Kirchhof in Sachsen ein zartes Geflechte von Lindenwurzeln mit, welche, zu den Särgen hinabgestiegen, diese sowohl als die enthaltenen Leichname wie mit Filigranarbeit umwickelt hatten. Ich fuhr fort, mich mit Wartung des Bryophyllum calycinum zu beschäftigen, dieser Pflanze, die den Triumph der Metamorphose im Offenbaren feiert. Indessen war durch die Reise österreichischer und bayerischer Naturforscher nach Brasilien die lebhafteste Hoffnung erregt.

Auf meiner Reise nach Karlsbad nahm ich den Weg über Wunsiedel nach Alexanderbad, wo ich die seltsamen Trümmer eines Granitgebirges nach vielen Jahren, seit 1785 zum erstenmal, wieder beobachtete. Mein Abscheu vor gewaltsamen Erklärungen, die man auch hier mit reichlichen Erdbeben, Vulkanen, Wasserfluten und andern titanischen Ereignissen geltend zu machen suchte, ward auf der Stelle vermehrt, da mit einem ruhigen Blick sich gar wohl erkennen ließ, daß durch teilweise Auflösung wie teilweise Beharrlichkeit des Urgesteins, durch ein daraus erfolgendes Stehenbleiben, Sinken, Stürzen, und zwar in ungeheuern Massen, diese staunenswürdige Erscheinung ganz naturgemäß sich ergeben habe. Auch dieser Gegenstand ward in meinen wissenschaftlichen Heften wörtlich und bildlich entwickelt; ich zweifle jedoch, daß eine so ruhige Ansicht dem turbulenten Zeitalter genügen werde.

In Karlsbad legte ich die alte geognostische Folge wieder in belehrenden Mustern zusammen, worunter schöne Stücke des Granits vom Schloßberge und Bernhardsfelsen, mit Hornsteinadern durchzogen, gar wohl in die Augen fielen. Eine neue, speziellere Folge, auf Porzellan- und Steingutsfabrikation sich beziehend, zugleich die natürlichen, unveränderten Stücke enthaltend, ward angefügt. Eine solche vollständigste Sammlung zeigte ich dem Fürsten von Thurn und Taxis und seiner Umgebung[293] vor, welcher bei teilnehmendem Besuch mit dem Aufgewiesenen zufrieden schien.

Den pseudovulkanischen Gebirgen schenkte ich gleichfalls erneute Aufmerksamkeit, wozu mir einige behufs des Wegebaues neu aufgeschlossene Bergräume in der Gegend von Dallwitz und Lessau die beste Gelegenheit gaben. Hier war es augenfällig, wie die ursprünglichen Schichten des früheren Flözgebirges, ehmals innigst mit Steinkohlenmasse vermischt, nunmehr durchgeglüht, als bunter Porzellanjaspis in ihrer alten Lage verharrten, da denn z.B. auch eine ganze Schicht stengligen Eisensteins sich dazwischen deutlich auszeichnete und Veranlassung gab, sowohl die Müllerische Sammlung als die eigenen und Freundeskabinette mit großen und belehrenden Stücken zu bereichern.

Als ich nun hierauf den durch den Wegebau immer weiter aufgeschlossenen Kammerberg bei Eger bestieg, sorgfältig abermals betrachtete und die regelmäßigen Schichten desselben genau ansah, so mußt ich freilich zu der Überzeugung des Bergrat Reuß wieder zurückkehren und dieses problematische Phänomen für pseudovulkanisch ansprechen. Hier war ein mit Kohlen geschichteter Glimmerschiefer wie dort spätere Tonflözlager durchglüht, geschmolzen und dadurch mehr oder weniger verändert.

Diese Überzeugung, einem frischen Anschauen gemäß, kostete mich nichts selbst gegen ein eignes gedrucktes Heft anzunehmen; denn wo ein bedeutendes Problem vorliegt, ist es kein Wunder, wenn ein redlicher Forscher in seiner Meinung wechselt.

Die kleinen Basalte vom Horn, einem hohen Berge in der Nähe von Elbogen, denen man bei der Größe einer Kinderfaust oft eine bestimmte Gestalt abgewinnen kann, gaben mir manche Beschäftigung. Der Grundtypus, woraus alle die übrigen Formen sich zu entwickeln schienen, ward in Ton nachgebildet, auch Musterstücke an Herrn von Schreibers nach Wien gesendet.

Auf den jenaischen Museen revidiere ich die Karlsbader[294] Suite mit neuer Übersicht, und da man denn doch immer vorsätzliche Feuer- und Glutversuche anstellt, um zu den Naturbränden parallele Erscheinungen zu gewinnen, so hatte ich in der Flaschenfabrik zu Zwätzen dergleichen anstellen lassen, und es betrübt mich, die chemischen Erfolge nicht in der eingeleiteten Ordnung des Katalogs aufbewahrt zu haben, besonders da einige Gebirgsarten nach dem heftigsten Brande sich äußerst regelmäßig gestalteten. Gleicherweise sandte man von Koblenz aus natürlichen Ton und daraus übermäßig gebrannte Ziegeln, welche auch sich schlackenartig und zugleich gestaltet erwiesen.

Jüngere Freunde versorgten mich mit Musterstücken von dem Urgeschiebe bei Danzig, ingleichen bei Berlin, aus denen man eine völlig systematische Sammlung Gesteinarten, und zwar in ihren härtesten Fels- und Gangteilen, anreihen konnte.

Das Beispiel einer allerletzten Formation zeigte uns der Steinschneider Facius. Er hatte in einem Tuffsteinkonglomerat, welches mancherlei abgerundete Geschiebe enthielt, auch einen geschnittenen Chalzedon gefunden, worauf ein Obelisk mit allerlei nicht ägyptischen Zeichen, ein kniend Betender an der einen, ein stehend Opfernder an der andern Seite, von leidlicher Arbeit. Man suchte sich diese offenbar zufällige Erscheinung aus vorwaltenden Umständen zu erklären, die jedoch hier zu entwickeln nicht der Ort ist. Der mecklenburgische Kammerherr Herr von Preen verehrte mir von einer Reise aus Tirol mitgebrachte bedeutende Mineralien; Graf Bedemar, Königlich Dänischer Kammerherr, schöne Opale von den Färö-Inseln.

An Büchern waren mir sehr angenehm: Nose, »Über Basaltgenese«, ein alter Gleichzeitiger, der auch noch an alten Begriffen hielt; ferner dessen »Symbola«; einen Auszug des ersteren teilt ich im Drucke mit, einer des letzteren liegt noch unter meinen Papieren. Herrn von Schreibers' »Aerolithen« förderten uns auch in diesem Kapitel. Von England waren sehr willkommen »The First Principles of Geology«, by G. B. Greenough, London 1819. Die Wernerischen Ansichten, die man[295] nun schon so viele Jahre gewohnt war, in einer fremden Sprache wieder zu vernehmen, war aufregend ergötzlich. Eine große geologische Karte von England war durch besondere Ausführung und Reinlichkeit einer ernsten Belehrung höchst förderlich. Als selbsttätig lieferte ich »Zur Morphologie und Naturwissenschaft«, des ersten Bandes drittes Heft.

Frische Lust zu Bearbeitung der Farbenlehre gaben die entoptischen Farben. Ich hatte mit großer Sorgfalt meinen Aufsatz im August dieses Jahrs abgeschlossen und dem Druck übergeben. Die Ableitung, der ich in meiner »Farbenlehre« gefolgt, fand sich auch hier bewährt; der entoptische Apparat war immer mehr vereinfacht worden. Glimmer- und Gipsblättchen wurden bei Versuchen angewendet und ihre Wirkung sorgfältig verglichen. Ich hatte das Glück, mit Herrn Staatsrat Schultz diese Angelegenheit nochmals durchzugehen, sodann begab ich mich an verschiedene Paralipomena der »Farbenlehre«. Purkinje, »Zur Kenntnis des Sehens«, ward ausgezogen und die Widersacher meiner Bemühungen nach Jahren aufgestellt.

Von teilnehmenden Freunden wurd ich auf ein Werk aufmerksam gemacht: »Nouvelle Chroagénésie«, par Le Prince, welches als Wirkung und Bestätigung meiner Farbenlehre angesehen werden könne. Bei näherer Betrachtung fand sich jedoch ein bedeutender Unterschied. Der Verfasser war auf demselben Wege wie ich dem Irrtum Newtons auf die Spur gekommen, allein er förderte weder sich noch andere, indem er, wie Dr. Reade auch getan, etwas gleich Unhaltbares an die alte Stelle setzen wollte. Es gab mir zu abermaliger Betrachtung Anlaß, wie der Mensch, von einer Erleuchtung ergriffen und aufgeklärt, doch so schnell wieder in die Finsternis seines Individuums zurückfällt, wo er sich alsdann mit einem schwachen Laternchen kümmerlich fortzuhelfen sucht.

Gar mancherlei Betrachtungen über das Herkommen in den Wissenschaften, über Vorschritt und Retardation, ja Rückschritt, werden angestellt. Der sich immer mehr an den Tag gebende und doch immer geheimnisvollere Bezug aller physikalischen[296] Phänomene aufeinander ward mit Bescheidenheit betrachtet und so die Chladnischen und Seebeckischen Figuren parallelisiert, als auf einmal in der Entdeckung des Bezugs des Galvanismus auf die Magnetnadel durch Professor Oersted sich uns ein beinahe blendendes Licht auftat. Dagegen betrachtete ich ein Beispiel des fürchterlichsten Obskurantismus mit Schrecken, indem ich die Arbeiten Biots über die Polarisation des Lichtes näher studierte. Man wird wirklich krank über ein solches Verfahren; dergleichen Theorien, Beweis- und Ausführungsarten sind wahrhafte Nekrosen, gegen welche die lebendigste Organisation sich nicht herstellen kann.

Der untere große jenaische Bibliotheksaal war nun in der Hauptsache hergestellt; die Repositorien, die sonst der Länge nach den Raum verfinsterten, nahmen nunmehr in der Quere das Licht gehörig auf. Ein buntes, von Serenissimo verehrtes altdeutsches Fenster ward eingesetzt und daneben die Gipsbüsten der beiden Herren Nutritoren aufgestellt, in dem oberen Saal ein geräumiger Pult eingerichtet und so immer mehreren Erfordernissen Genüge geleistet. Um in den allzu einfachen, unverzierten, dem Auge wenig Ergötzliches bietenden Sälen einige Erheiterung anzubringen, dachte man auf symbolische, die verschiedenen geistigen Tätigkeiten bezeichnende Bilder, welche, sonst so beliebt, mit Sinnsprüchen begleitet, in allen wissenschaftlichen Anstalten dem Besucher entgegenleuchteten. Einiges wurde ausgeführt, anderes durch Herrn Schinkels Gefälligkeit vorbereitet, das meiste blieb als Skizze, ja nur als bloßer Gedanke zurück. Die Buderischen Deduktionen wurden durch Vulpius katalogiert, ein böhmisches Manuskript, auf Hussens Zeiten bezüglich, durch Dr. Wloka übersetzt, ein Hauptbibliotheksbericht erstattet, eine übersichtliche Fortwirkung durch ausführliche Tagebücher und Dr. Wellers persönliche Berichterstattung möglich gemacht.

Bei der botanischen Anstalt beschäftigte uns die Anlage eines neuen Glashauses nach dem Befehl Serenissimi und unter dessen besonderer Mitwirkung. Riß und Anschlag wurden geprüft,[297] die Akkorde abgeschlossen und zu gehöriger Zeit die Arbeit vollendet. Auch war der Ankauf der Starkischen Präparatensammlung für das anatomische Kabinett gebilligt und abgeschlossen, der Transport derselben aber, welcher ein neues Lokal forderte, noch aufgeschoben. Der untere große Saal im Schlosse, der seit Entfernung der Büttnerischen Bibliothek noch im Wuste lag, ward völlig wiederhergestellt, um verschiedene Kuriosa darin aufzubewahren. Ein bedeutendes Modell des Amsterdamer Rathauses, das bei mehrmaligem Umstellen und Transportieren höchst beschädigt worden war, ließ sich nun, repariert, ruhig wieder aufrichten.

In Weimar ging alles seinen Gang; das Münzkabinett war an Vulpius zu endlicher Einordnung übergeben worden; auch kam die Aktenrepositur völlig in Ordnung.

Zu meinem Geburtstagsfeste hatte voriges Jahr die angesehene Gesellschaft der Deutschen Altertümer in Frankfurt am Main die Aufmerksamkeit, mich unter die Ehrenmitglieder aufzunehmen. Indem ich nun ihre Forderungen näher betrachtete und welche Teilnahme sie allenfalls auch von mir wünschen könnte, so ging mir der Gedanke bei, es möchte wohl auch ein Vorteil sein, in spätern Jahren bei höherer Ausbildung in ein neues Fach gerufen zu werden. Es lag auf der jenaischen Bibliothek ein geschätztes Manuskript von der »Chronik« des Otto von Freisingen, auch einige andere, welche nach dem Wunsch jener Gesellschaft sollten beschrieben werden. Nun hatte der Bibliothekschreiber Compter ein besonderes Talent zu dergleichen Dingen, es glückte ihm die Nachahmung der alten Schriftzüge ganz besonders, deswegen er auch die genaueste Aufmerksamkeit auf so etwas zu legen pflegte. Ich verfertigte ein sorgfältiges Schema, wornach die Codices Punkt für Punkt verglichen werden sollten. Hiernach fing er an, gedachtes Manuskript des Otto von Freisingen mit dem ersten Straßburger Abdruck desselben zu vergleichen, eine Arbeit, die nicht fortgesetzt wurde. Im ganzen ward jedoch die Beschäftigung eine Zeitlang fortgesetzt sowie das Verhältnis zu Herrn Büchler in Frankfurt unterhalten.[298]

Zu gleicher Zeit erkaufte die Frau Erbgroßherzogin aus der Auktion des Kanonikus Pick zu Köln eine wohlerhaltene silberne Schale, deren eingegrabene Darstellung sowohl als Inschrift sich auf einen Taufakt Friedrich des Ersten beziehen und auf einen Paten, Otto genannt. Es wurde in Steindruck für Frankfurt kopiert, daselbst und an mehreren Orten kommentiert; aber eben hieraus zeigte sich, wie unmöglich es sei, antiquarische Meinungen zu vereinigen. Ein deshalb geführtes Aktenheft ist ein merkwürdiges Beispiel eines solchen antiquarisch-kritischen Dissensus, und ich leugne nicht, daß mir nach solcher Erfahrung weitere Lust und Mut zu diesem Studium ausging. Denn meiner gnädigsten Fürstin hatte ich eine Erklärung der Schale angekündigt, und da immer ein Widerspruch dem andern folgte, so ward die Sache dergestalt ungewiß, daß man kaum noch die silberne Schale in der Hand zu halten glaubte und wirklich zweifelte, ob man Bild und Inschrift noch vor Augen habe.

Der Triumphzug Mantegnas, von Andreas Andreani in Holz geschnitten, hatte unter den Kunstwerken des sechzehnten Jahrhunderts von jeher meine größte Aufmerksamkeit an sich gezogen. Ich besaß einzelne Blätter desselben und sah sie vollständig in keiner Sammlung, ohne ihnen eine lebhafte Betrachtung ihrer Folge zu widmen. Endlich erhielt ich sie selbst und konnte sie ruhig neben- und hintereinander beschauen; ich studierte den Vasari deshalb, welcher mir aber nicht zusagen wollte. Wo aber gegenwärtig die Originale seien, da sie, als auf Tafeln gemalt, von Mantua weggeführt worden, blieb mir verborgen. Ich hatte meine Blätter eines Morgens in dem jenaischen Gartenhause vollständig aufgelegt, um sie genauer zu betrachten, als der junge Mellish, ein Sohn meines alten Freundes, hereintrat und sich alsobald in bekannter Gesellschaft zu finden erklärte, indem er kurz vor seiner Abreise aus England sie zu Hamptoncourt wohlerhalten in den königlichen Zimmern verlassen hatte. Die Nachforschung ward leichter, ich erneuerte meine Verhältnisse zu Herrn Dr. Noehden, welcher auf die freundlichste Weise bemüht war, allen meinen[299] Wünschen entgegenzukommen. Zahl, Maß, Zustand, ja die Geschichte ihres Besitzes von Karl dem Ersten her, alles ward aufgeklärt, wie ich solches in »Kunst und Altertum«, vierter Band, zweites Heft, umständlich ausgeführt habe. Die von Mantegna selbst in Kupfer gestochenen Originalblätter aus dieser Folge kamen mir gleichfalls durch Freundesgunst zur Hand, und ich konnte alle zusammen, mit den Nachweisungen von Bartsch verglichen, nunmehr ausführlich erkennen und mich über einen so wichtigen Punkt der Kunstgeschichte ganz eigens aufklären.

Von Jugend auf war meine Freude, mit bildenden Künstlern umzugehen. Durch freie, leichte Bemühung entstand im Gespräch und aus dem Gespräch etwas vor unsern Augen; man sah gleich, ob man sich verstanden hatte, und konnte sich um desto eher verständigen. Dieses Vergnügen ward mir diesmal in hohem Grade: Herr Staatsrat Schultz brachte mir drei würdige Berliner Künstler nach Jena, wo ich gegen Ende des Sommers in der gewöhnlichen Gartenwohnung mich aufhielt. Herr Geheimerat Schinkel machte mich mit den Absichten seines neuen Theaterbaues bekannt und wies zugleich unschätzbare landschaftliche Federzeichnungen vor, die er auf einer Reise ins Tirol gewonnen hatte. Die Herren Tieck und Rauch modellierten meine Büste, ersterer zugleich ein Profil von Freund Knebel. Eine lebhafte, ja leidenschaftliche Kunstunterhaltung ergab sich dabei, und ich durfte diese Tage unter die schönsten des Jahres rechnen. Nach vollbrachtem Modell in Ton sorgte Hofbildhauer Kaufmann für eine Gipsform. Die Freunde begaben sich nach Weimar, wohin ich ihnen folgte und die angenehmsten Stunden wiederholt genoß. Es hatte sich in den wenigen Tagen so viel Produktives – Anlage und Ausführung, Plane und Vorbereitung, Belehrendes und Ergötzliches – zusammengedrängt, daß die Erinnerung daran immer wieder neu belebend sich erweisen mußte.

Von den berlinischen Kunstzuständen ward ich nunmehr aufs vollständigste unterrichtet, als Hofrat Meyer mir das Tagebuch eines dortigen Aufenthaltes mitteilte; so wie die[300] Betrachtung über Kunst und Kunstwerke im allgemeinen durch dessen Aufsätze in bezug auf Kunstschulen und Kunstsammlungen bis zu Ende des Jahrs lebendig erhalten wurde. Von moderner Plastik erhielt ich die vollständige Sammlung der Medaillons, welche Graf Tolstoi zu Ehren des großen Befreiungskrieges in Messing geschnitten hatte. Wie höchlich lobenswert diese Arbeit angesprochen werden mußte, setzten die Weimarischen Kunstfreunde in »Kunst und Altertum« mehr auseinander.

Leipziger Auktionen und sonstige Gelegenheiten verschafften meiner Kupferstichsammlung belehrende Beispiele. Braundrücke, nach Raffaelin da Reggio, einer Grablegung, wovon ich das Original schon einige Zeit besaß, gaben über die Verfahrungsart der Künstler und Nachbildner erfreulichen Aufschluß. Die »Sakramente« von Poussin ließen tief in das Naturell eines so bedeutenden Künstlers hineinschauen. Alles war durch den Gedanken gerechtfertigt, auf Kunstbegriff gegründet; aber eine gewisse Naivetät, die sich selbst und die Herzen anderer aufschließt, fehlte fast durchaus, und in solchem Sinne war eine Folge so wichtiger und verehrter Gegenstände höchst förderlich.

Auch kamen mir gute Abdrücke zu von Haldenwangs Aquatinta nach sorgfältigen Nahlischen Zeichnungen der vier Kasseler Claude Lorrains. Diese setzen immerfort in Erstaunen und erhalten um so größeren Wert, als die Originale, aus unserer Nachbarschaft entrückt, in dem hohen Norden nur wenigen zugänglich bleiben.

Der wackere, immer fleißige, den Weimarischen Kunstfreunden immer geneigt gebliebene Friedrich Gmelin sendete von seinen Kupfern zum Virgil der Herzogin von Devonshire die meisten Probeabdrücke. Sosehr man aber auch hier seine Nadel bewunderte, so sehr bedauerte man, daß er solchen Originalen habe seine Hand leihen müssen. Diese Blätter, zur Begleitung einer Prachtausgabe der »Aeneis« von Annibale Caro bestimmt, geben ein trauriges Beispiel von der modernen realistischen Tendenz, welche sich hauptsächlich bei den Engländern[301] wirksam erweist. Denn was kann wohl trauriger sein, als einem Dichter aufhelfen zu wollen durch Darstellung wüster Gegenden, welche die lebhafteste Einbildungskraft nicht wieder anzubauen und zu bevölkern wüßte? Muß man denn nicht schon annehmen, daß Virgil zu seiner Zeit Mühe gehabt, sich jenen Urzustand der lateinischen Welt zu vergegenwärtigen, um die längst verlassenen, verschwundenen, durchaus veränderten Schlösser und Städte einigermaßen vor den Römern seiner Zeit dichterisch aufzustutzen? Und bedenkt man nicht, daß verwüstete, der Erde gleichgemachte, versumpfte Lokalitäten die Einbildungskraft völlig paralysieren und sie alles Auf- und Nachschwungs, der allenfalls noch möglich wäre, sich dem Dichter gleichzustellen, völlig berauben?

Die Münchener Steindrücke ließen uns die unaufhaltsamen Fortschritte einer so hochwichtigen Technik von Zeit zu Zeit anschauen. Die Kupfer zum »Faust«, von Retzsch gezeichnet, erschienen im Nachstich zu London höchst reinlich und genau. Ein historisches Blatt, die versammelten Minister beim Wiener Kongresse darstellend, ein Geschenk der Frau Herzogin von Kurland, nahm in den Portefeuillen des größten Formats seinen Platz.

Der älteste Grundsatz der Chromatik, die körperliche Farbe sei ein Dunkles, das man nur bei durchscheinendem Lichte gewahr werde, betätigte sich an den transparenten Schweizer Landschaften, welche König von Schaffhausen bei uns aufstellte. Ein kräftig Durchschienenes setzte sich an die Stelle des lebhaft Beschienenen und übermannte das Auge so, daß anstatt des entschiedensten Genusses endlich ein peinvolles Gefühl eintrat.

Schließlich habe ich noch dankbar eines Steindrucks zu gedenken, welcher von Mainz aus, meinen diesjährigen Geburtstag feiernd, mit einem Gedicht freundlich gesendet wurde. Auch langte der Riß an zu einem Monument, welches meine teuren Landsleute mir zugedacht hatten. Als anmutige Verzierung einer idyllischen Gartenszene, wie der erste Freundesgedanke die Absicht aussprach, wär es dankbar anzuerkennen[302] gewesen, aber als große architektonische, selbständige Prachtmasse war es wohl geziemender, sie bescheiden zu verbitten.

Aber zu höheren, ja zu den höchsten Kunstbetrachtungen wurden wir aufgefordert, indem die Bau- und Bildwerke Griechenlands lebhafter zur Sprache kamen. An das Parthenon wurden wir aufs neue geführt, von den Elginischen Marmoren kam uns nähere Kunde, nicht weniger von den phigalischen. Die äußersten Grenzen menschlicher Kunsttätigkeit im höchsten Sinne und mit natürlichster Nachbildung wurden wir gewahr und priesen uns glücklich, auch dies erlebt zu haben.

Auch ein gleichzeitiger Freund fesselte Trieb und Einbildungskraft am Altertum; das neueste Heft von Tischbeins Bildwerken zum Homer gab zu manchen Vergleichungen Anlaß. Der mailändische Kodex der »Ilias«, obgleich aus späterer Zeit, war für die Kunstbetrachtungen von großem Belang, indem offenbar ältere herrliche Kunstwerke darin nachgebildet und deren Andenken dadurch für uns erhalten worden.

Der Aufenthalt Herrn Raabes in Rom und Neapel war für uns nicht ohne Wirkung geblieben. Wir hatten auf höhere Veranlassung demselbigen einige Aufgaben mitgeteilt, wovon sehr schöne Resultate uns übersendet wurden. Eine Kopie der »Aldobrandinischen Hochzeit«, wie der Künstler sie vorfand, ließ sich mit einer älteren, vor dreißig Jahren gleichfalls sehr sorgfältig gefertigten, angenehm vergleichen. Auch hatten wir, um das Kolorit der pompejischen Gemälde wieder ins Gedächtnis zu rufen, davon einige Kopien gewünscht, da uns denn der wackere Künstler mit Nachbildung der bekannten Zentauren und Tänzerinnen höchlich erfreute. Das chromatische Zartgefühl der Alten zeigte sich ihren übrigen Verdiensten völlig gleich, und wie sollt es auch einer so harmonischen Menschheit an diesem Hauptpunkte gerade gemangelt haben? Wie sollte, statt dieses großen Kunsterfordernisses, eine Lücke in ihrem vollständigen Wesen geblieben sein?

Als aber unser werter Künstler bei der Rückreise nach Rom diese seine Arbeit vorwies, erklärten sie die dortigen Nazarener für völlig unnütz und zweckwidrig. Er aber ließ sich dadurch[303] nicht irren, sondern zeichnete und kolorierte auf unsern Rat in Florenz einiges nach Peter von Cortona, wodurch unsere Überzeugung, daß dieser Künstler besonders für Farbe ein schönes Naturgefühl gehabt habe, sich abermals bestätigte. Wäre seit Anfang des Jahrhunderts unser Einfluß auf deutsche Künstler nicht ganz verlorengegangen, hätte sich der durch Frömmelei erschlaffte Geist nicht auf ergrauten Moder zurückgezogen, so würden wir zu einer Sammlung der Art Gelegenheit gegeben haben, die dem reinen Natur- und Kunstblick eine Geschichte älteren und neueren Kolorits, wie sie schon mit Worten verfaßt worden, in Beispielen vor Augen gelegt hätte. Da es aber einmal nicht sein sollte, so suchten wir nur uns und die wenigen zunächst Verbündeten in vernünftiger Überzeugung zu bestärken, indes jener wahnsinnige Sektengeist keine Scheu trug, das Verwerfliche als Grundmaxime alles künstlerischen Handelns auszusprechen.

Mit eigenen künstlerischen Produktionen waren wir in Weimar nicht glücklich. Heinrich Müller, der sich in München des Steindrucks befleißigt hatte, ward aufgemuntert, verschiedene hier vorhandene Zeichnungen, worunter auch Carstenssche waren, auf Stein zu übertragen; sie gelangen ihm zwar nicht übel, allein das unter dem Namen Weimarische Pinakothek ausgegebene erste Heft gewann bei überfülltem Markt, wo noch dazu sich vorzüglichere Ware fand, keine Käufer. Er versuchte noch einige Platten, allein man ließ das Geschäft innehalten in Hoffnung, bei verbesserter Technik in der Folge dasselbe wieder aufzunehmen.

Als mit bildender Kunst einigermaßen verwandt, bemerke ich hier, daß meine Aufmerksamkeit auf eigenhändige Schriftzüge vorzüglicher Personen dieses Jahr auch wieder angeregt worden, indem eine Beschreibung des Schlosses Friedland mit Faksimiles von bedeutenden Namen aus dem Dreißigjährigen Kriege herauskam, die ich an meine Originaldokumente sogleich ergänzend anschloß. Auch erschien zu derselben Zeit ein Porträt des merkwürdigen Mannes in ganzer Figur von der leichtgeübten Hand des Direktor Langer in Prag, wodurch[304] denn die Geister jener Tage zwiefach an uns wieder herangebannt wurden.

Von gleicher Teilnahme an Werken mancher Art wäre soviel zu sagen: Hermanns Programm »Über das Wesen und die Behandlung der Mythologie« empfing ich mit der Hochachtung, die ich den Arbeiten dieses vorzüglichen Mannes von jeher gewidmet hatte: denn was kann uns zu höherem Vorteil gereichen, als in die Ansichten solcher Männer einzugehen, die mit Tief- und Scharfsinn ihre Aufmerksamkeit auf ein einziges Ziel hin richten? Eine Bemerkung konnte mir nicht entgehen: daß die spracherfindenden Urvölker bei Benamung der Naturerscheinungen und deren Verehrung als waltender Gottheiten mehr durch das Furchtbare als durch das Erfreuliche derselben aufgeregt worden, so daß sie eigentlich mehr tumultuarisch zerstörende als ruhig schaffende Gottheiten gewahr wurden. Mir schienen, da sich denn doch dieses Menschengeschlecht in seinen Grundzügen niemals verändert, die neuesten geologischen Theoristen von ebendem Schlage, die ohne feuerspeiende Berge, Erdbeben, Kluftrisse, unterirdische Druck- und Quetschwerke (πιεσματα), Stürme und Sündfluten keine Welt zu erschaffen wissen.

Wolfs »Prolegomena« nahm ich abermals vor. Die Arbeiten dieses Mannes, mit dem ich in näheren persönlichen Verhältnissen stand, hatten mir auch schon längst auf meinem Wege vorgeleuchtet. Beim Studieren des gedachten Werkes merkt ich mir selbst und meinen innern Geistesoperationen auf. Da gewahrt ich denn, daß eine Systole und Diastole immerwährend in mir vorging. Ich war gewohnt, die beiden Homerischen Gedichte als Ganzheiten anzusehen, und hier wurden sie mir jedes mit großer Kenntnis, Scharfsinn und Geschicklichkeit getrennt und auseinandergezogen, und indem sich mein Verstand dieser Vorstellung willig hingab, so faßte gleich darauf ein herkömmliches Gefühl alles wieder auf einen Punkt zusammen, und eine gewisse Läßlichkeit, die uns bei allen wahren poetischen Produktionen ergreift, ließ mich die bekannt gewordenen Lücken, Differenzen und Mängel wohlwollend[305] übersehen. Reisigs Bemerkungen über den Aristophanes erschienen bald darauf; ich eignete mir gleichfalls, was mir gehörte, daraus zu, obgleich das Grammatische an sich selbst außerhalb meiner Sphäre lag. Lebhafte Unterhaltungen mit diesem tüchtigen jungen Manne, geistreich wechselseitige Mitteilungen verliehen mir bei meinem diesmaligen längeren Aufenthalt in Jena die angenehmsten Stunden.

Die französische Literatur, ältere und neuere, erregte auch diesmal vorzüglich mein Interesse. Den mir zum Lesen fast aufgedrungenen Roman »Anatole« mußt ich als genügend billigen. Die Werke der Madame Roland erregten bewunderndes Erstaunen. Daß solche Charaktere und Talente zum Vorschein kommen, wird wohl der Hauptvorteil bleiben, welchen unselige Zeiten der Nachwelt überliefern. Sie sind es denn auch, welche den abscheulichsten Tagen der Weltgeschichte in unsern Augen einen so hohen Wert geben. Die Geschichte der Johanna von Orleans in ihrem ganzen Detail tut eine gleiche Wirkung, nur daß sie in der Entfernung mehrerer Jahrhunderte noch ein gewisses abenteuerliches Helldunkel gewinnt. Ebenso werden die Gedichte Mariens von Frankreich durch den Duft der Jahre, der sich zwischen uns und ihre Persönlichkeit hineinzieht, anmutiger und lieber.

Von deutschen Produktionen war mir »Olfried und Lisena« eine höchst willkommene Erscheinung, worüber ich mich auch mit Anteil aussprach. Das einzige Bedenken, was sich auch in der Folge einigermaßen rechtfertigte, war: der junge Mann möchte sich in solchem Umfang zu früh ausgegeben haben. Werners »Makkabäer« und Houwalds »Bild« traten mir, jedes in seiner Art, unerfreulich entgegen; sie kamen mir vor wie Ritter, welche, um ihre Vorgänger zu überbieten, den Dank außerhalb der Schranken suchen. Auch enthielt ich mich von dieser Zeit an alles Neueren, Genuß und Beurteilung jüngeren Gemütern und Geistern überlassend, denen solche Beeren, die mir nicht mehr munden wollten, noch schmackhaft sein konnten.

In eine frühere Zeit jedoch durch Blumauers »Aeneis« versetzt, erschrak ich ganz eigentlich, indem ich mir vergegenwärtigen[306] wollte, wie eine so grenzenlose Nüchternheit und Plattheit doch auch einmal dem Tag willkommen und gemäß hatte sein können. »Touti Nameh« von Iken zog mich unerwartet wieder nach dem Orient. Meine Bewunderung jener Märchen, besonders nach der älteren Redaktion, wovon Kosegarten in dem Anhange uns Beispiele gab, erhöhte sich, oder vielmehr sie frischte sich an: Lebendige Gegenwart des Unerforschlichen und Unglaublichen ist es, was uns hier so gewaltsam erfreulich anzieht. Wie leicht wären solche unschätzbare naive Dinge durch mystische Symbolik für Gefühl und Einbildungskraft zu zerstören. Als völligen Gegensatz erwähne ich hier einer schriftlichen Sammlung lettischer Lieder, die, ebenso begrenzt wie jene grenzenlos, sich in dem natürlichsten, einfachsten Kreise bewegten.

In ferne Länder ward mein Anteil hingezogen und in die schrecklichsten afrikanischen Zustände versetzt durch Dumont, »In marokkanischer Sklaverei«, in Verhältnisse älterer und neuerer steigender und sinkender Bildung durch Labordes »Reise nach Spanien«. An die Ostsee führte mich ein geschriebenes Reisetagebuch von Zelter, das mir aufs neue die Überzeugung betätigte, daß die Neigung, die wir zum Reisenden hegen, uns aufs allersicherste entfernte Lokalitäten und Sitten vergegenwärtigt.

Bedeutende Persönlichkeiten, ferner und näher, forderten meine Teilnahme. Des Schweizerhauptmann Landolts Biographie von Weiß, besonders mit einigen handschriftlichen Zusätzen, erneuerten Anschauung und Begriff des wundersamsten Menschenkindes, das vielleicht auch nur in der Schweiz geboren und groß werden konnte. Ich hatte den Mann im Jahre 1779 persönlich kennengelernt und als Liebhaber von Seltsamkeiten und Exzentrizitäten die tüchtige Wunderlichkeit desselben angestaunt, auch mich an den Märchen, mit denen man sich von ihm trug, nicht wenig ergötzt. Hier fand ich nun jene früheren Tage wieder hervorgehoben und konnte ein solches psychisches Phänomen um so eher begreifen, als ich seine persönliche Gegenwart und die Umgebung, worin ich ihn kennengelernt,[307] der Einbildungskraft und dem Nachdenken zu Hülfe rief.

Näher berührte mich die zwischen Voß und Stolberg ausbrechende Mißhelligkeit, nicht sowohl der Ausbruch selbst als die Einsicht in ein vieljähriges Mißverhältnis, das klügere Menschen früher ausgesprochen und aufgehoben hätten. Aber wer entschließt sich leicht zu einer solchen Operation? Sind doch Ortsverhältnisse, Familienbezüge, Herkömmlichkeiten und Gewohnheiten schon abstumpfend genug; sie machen in Geschäften, im Eh- und Hausstande, in geselligen Verbindungen das Unerträgliche ertragbar. Auch hätte das Unvereinbare von Vossens und Stolbergs Natur sich früher ausgesprochen und entschieden, hätte nicht Agnes als Engel das irdische Unwesen besänftigt und als Grazioso eine furchtbar drohende Tragödie mit anmutiger Ironie durch die ersten Akte zu mildern gesucht. Kaum war sie abgetreten, so tat sich das Unversöhnliche hervor, und wir haben daraus zu lernen, daß wir zwar nicht übereilt, doch baldmöglichst aus Verhältnissen treten sollen, die einen Mißklang in unser Leben bringen, oder daß wir uns ein für allemal entschließen müssen, denselben zu dulden und aus anderm Betracht mit Weisheit zu übertragen. Eins ist freilich so schwer als das andere, indessen schicke sich jeder, so gut er kann, in das, was ihm begegnet in Gefolg von Ereignissen oder von Entschluß.

Mich besuchte Ernst Schubarth, dessen persönliche Bekanntschaft mir höchst angenehm war. Die Neigung, womit er meine Arbeiten umfaßt hatte, mußte mir ihn lieb und wert machen, seine sinnige Gegenwart lehrte mich ihn noch höher schätzen, und ob mir zwar die Eigenheit seines Charakters einige Sorge für ihn gab, wie er sich in das bürgerliche Wesen finden und fügen werde, so tat sich doch eine Aussicht auf, in die er mit günstigem Geschick einzutreten hoffen durfte.

Eigene Arbeiten und Vorarbeiten beschäftigten mich auf einen hohen Grad. Ich nahm den »Zweiten Aufenthalt in Rom« wieder vor, um der »Italienischen Reise« einen notwendigen Fortgang anzuschließen; sodann aber fand ich mich bestimmt,[308] die »Kampagne von 1792« und die »Belagerung von Mainz« zu behandeln. Ich machte deshalb einen Auszug aus meinen Tagebüchern, las mehrere auf jene Epochen bezügliche Werke und suchte manche Erinnerungen hervor. Ferner schrieb ich eine summarische Chronik der Jahre 1797 und 98 und lieferte zwei Hefte von »Kunst und Altertum« als Abschluß des zweiten Bandes und bereitete das erste des dritten vor, wobei ich einer abermaligen sorgfältigen Entwicklung der Motive der »Ilias« zu gedenken habe. Ich schrieb den »Verräter sein selbst«, die Fortsetzung des »Nußbraunen Mädchens« und förderte den ideellen Zusammenhang der »Wanderjahre«. Die freie Gemütlichkeit einer Reise erlaubte mir, dem »Divan« wieder nahe zu treten; ich erweiterte das »Buch des Paradieses« und fand manches in die vorhergehenden einzuschalten. Die so freundlich von vielen Seiten her begangene Feier meines Geburtstages suchte ich dankbar durch ein symbolisches Gedicht zu erwidern. Aufgeregt durch teilnehmende Anfrage, schrieb ich einen Kommentar zu dem abstrusen Gedicht »Harzreise im Winter«.

Von fremder Literatur beschäftigte mich »Graf Carmagnola«. Der wahrhaft liebenswürdige Verfasser, Alexander Manzoni, ein geborner Dichter, ward wegen theatralischer Ortsverletzung von seinen Landsleuten des Romantizismus angeklagt, von dessen Unarten doch nicht die geringste an ihm haftete. Er hielt sich an einem historischen Gange, seine Dichtung hatte den Charakter einer vollkommenen Humanität, und ob er gleich wenig sich in Tropen erging, so waren doch seine lyrischen Äußerungen höchst rühmenswert, wie selbst mißwollende Kritiker anerkennen mußten. Unsere guten deutschen Jünglinge könnten an ihm ein Beispiel sehen, wie man in einfacher Größe natürlich waltet; vielleicht dürfte sie das von dem durchaus falschen Transzendieren zurückbringen.

Musik war mir spärlich, aber doch lieblich zugemessen. Ein Kinderlied, zum Nepomuksfeste in Karlsbad gedichtet, und einige andere von ähnlicher Naivetät gab mir Freund Zelter in angemessener Weise und hohem Sinne zurück. Musikdirektor [309] Eberwein wandte sein Talent dem »Divan« mit Glück zu, und so wurde mir durch den allerliebsten Vortrag seiner Frau manche ergötzliche gesellige Stunde.

Einiges auf Personen Bezügliche will ich, wie ich es bemerkt finde, ohne weiteren Zusammenhang aufzeichnen. Der Herzog von Berry wird ermordet zum Schrecken von ganz Frankreich. Hofrat Jagemann stirbt zur Bedaurung von Weimar. Herrn von Gagerns längst ersehnte Bekanntschaft wird mir bei einem freundlichen Besuche, wo mir die eigentümliche Individualität des vorzüglichen Mannes entgegentritt. Ihro Majestät der König von Württemberg beehren mich in Begleitung unserer jungen Herrschaften mit Ihro Gegenwart. Hierauf habe ich das Vergnügen, auch seine begleitenden Kavaliere, werte Männer, kennenzulernen. In Karlsbad treff ich mit Gönnern und Freunden zusammen. Gräfin von der Recke und Herzogin von Kurland find ich wie sonst anmutig und teilnehmend gewogen. Mit Dr. Schütze werden literarische Unterhaltungen fortgesetzt. Legationsrat Conta nimmt einsichtigen Teil an den geognostischen Exkursionen. Die auf solchen Wanderungen und sonst zusammengebrachten Musterstücke betrachtet der Fürst von Thurn und Taxis mit Anteil, so wie auch dessen Begleitung sich dafür interessiert. Prinz Karl von Schwarzburg-Sondershausen zeigt sich mir gewogen. Mit Professor Hermann aus Leipzig führt mich das gute Glück zusammen, und man gelangt wechselseitig zu näherer Aufklärung.

Und so darf ich denn wohl auch zuletzt in Scherz und Ernst einer bürgerlichen Hochzeit gedenken, die auf dem Schießhause, dem sogenannten kleinen Versailles, gefeiert wurde. Ein angenehmes Tal an der Seite des Schlaggenwalder Weges war von wohlgekleideten Bürgern übersäet, welche sich, teils als Gäste des jungen Paars unter einer alles überschallenden Tanzmusik mit einer Pfeife Tabak lustwandelnd oder bei oft wieder gefüllten Gläsern und Bierkrüglein sitzend, gar traulich ergötzten. Ich gesellte mich zu ihnen und gewann in wenigen Stunden einen deutlichern Begriff von dem eigentlich städtischen Zustande Karlsbads, als ich in vielen Jahren[310] vorher mir nicht hatte zueignen können, da ich den Ort bloß als ein großes Wirts- und Krankenhaus anzusehen gewohnt war.

Mein nachheriger Aufenthalt in Jena wurde dadurch sehr erheitert, daß die Herrschaften einen Teil des Sommers in Dornburg zubrachten, wodurch eine lebhaftere Geselligkeit entstand, auch manches Unerwartete sich hervortat, wie ich denn den berühmten indischen Gaukler und Schwertverschlucker Krtom Balahja seine außerordentlichen Künste mit Erstaunen bei dieser Gelegenheit vortragen sah.

Gar mancherlei Besuche beglückten und erfreuten mich in dem alten Gartenhause und dem daran wohlgelegenen wissenschaftlich geordneten Botanischen Garten: Madame Rodde, geborne Schlözer, die ich vor vielen Jahren bei ihrem Vater gesehen hatte, wo sie als das schönste, hoffnungsvollste Kind zur Freude des strengen, fast mißmutigen Mannes glücklich emporwuchs. Dort sah ich auch ihre Büste, welche unser Landsmann Trippel kurz vorher in Rom gearbeitet hatte, als Vater und Tochter sich dort befanden. Ich möchte wohl wissen, ob ein Abguß davon noch übrig ist und wo er sich findet; er sollte vervielfältigt werden: Vater und Tochter verdienen, daß ihr Andenken erhalten bleibe. Von Both und Gemahlin aus Rostock, ein wertes Ehepaar, durch Herrn von Preen mir näher verwandt und bekannt, brachten mir eines Natur- und Nationaldichters, D. G. Babsts, Produktionen, welche sich neben den Arbeiten seiner Gleichbürtigen gar wohl und löblich ausnehmen. Höchst schätzbar sind seine Gelegenheitsgedichte, die uns einen altherkömmlichen Zustand in festlichen Augenblicken neu belebt wieder darstellen. Graf Paar, Adjutant des Fürsten von Schwarzenberg, dem ich in Karlsbad mich freundschaftlich verbunden hatte, versicherte mir durch unerwartetes Erscheinen und durch fortgesetzte vertrauliche Gespräche seine unverbrüchliche Neigung. Anton Prokesch, gleichfalls Adjutant des Fürsten, ward mir durch ihn zugeführt. Beide, von der Hahnemannischen Lehre durchdrungen, auf welche der herrliche Fürst seine Hoffnung gesetzt hatte, machten mich damit[311] umständlich bekannt, und mir schien daraus hervorzugehen, daß, wer, auf sich selbst aufmerksam, einer angemessenen Diät nachlebt, bereits jener Methode sich unbewußt annähert.

Herr von der Malsburg gab mir Gelegenheit, ihm für so manches aufklärende Vergnügen und tiefere Einsicht in die spanische Literatur zu danken. Ein Fellenbergscher Sohn brachte mir die menschenfreundlich bildenden Bemühungen des Vaters deutlicher zu Sinn und Seele. Frau von Helvig, geborne von Imhoff, erweckte durch ihre Gegenwart angenehme Erinnerungen früherer Verhältnisse, so wie ihre Zeichnungen bewiesen, daß sie auf dem Grund immer fortbaute, den sie in Gesellschaft der Kunstfreunde vor Jahren in Weimar gelegt hatte. Graf und Gräfin Hopffgarten sowie Förster und Frau brachten mir persönlich die Versicherung bekannten und unbekannten treuen Anteils an meinem Dasein. Geheimerat Rudolphi von Berlin sowie Professor Weiß gingen allzu schnell vorüber, und doch war ihre kurze Gegenwart mir zur aufmunternden Belehrung.

Für unsern Kreis erwarteten wir zu dieser Zeit Herrn Generalsuperintendenten Röhr. Welche große Vorteile durch ihn für uns sich bereiteten, war gleich bei seinem Eintritt zwar nicht zu berechnen, aber doch vorauszusehen. Mir kam er zur glücklichen Stunde; seine erste geistliche Handlung war die Taufe meines zweiten Enkels, dessen unentwickeltes Wesen mir schon manches Gute vorzudeuten schien. Geheimer Hofrat Blumenbach und Familie erfreuten uns einige Tage durch ihre Gegenwart, er immer der heitere, umsichtige, kenntnisreiche Mann von unerloschnem Gedächtnis, selbständig, ein wahrer Repräsentant der großen gelehrten Anstalt, als deren höchst bedeutendes Mitglied er so viele Jahre gewirkt hatte. Die lieben Verwandten, Rat Schlosser und Gattin, von Frankfurt am Main kommend, hielten sich einige Tage bei uns auf, und das vieljährig tätige freundschaftliche Verhältnis konnte sich durch persönliche Gegenwart nur zu höherem Vertrauen steigern. Geheimerat Wolf belebte die gründlichen literarischen[312] Studien durch seinen belehrenden Widerspruchsgeist, und bei seiner Abreise traf es sich zufällig, daß er den nach Halle berufenen Dr. Reisig als Gesellschafter mit dahin nehmen konnte, welchen jungen Mann ich nicht allein um meinetwillen sehr ungern scheiden sah. Dr. Küchelbecker von Petersburg, von Quandt und Gemahlin, von Arnim und Maler Ruhl brachten durch die interessantesten Unterhaltungen große Mannigfaltigkeit in unsere geselligen Tage.

Von seiten unserer fürstlichen Familie erfreute uns die Gegenwart Herzog Bernhards mit Gemahlin und Nachkommenschaft; fast zu gleicher Zeit aber sollten durch eine unglückliche Beschädigung unserer Frau Großherzogin, indem sie bei einem unversehenen Ausgleiten den Arm brach, die sämtlichen Ihrigen in Kummer und Sorge versetzt werden.

Nachträglich will ich noch bemerken, daß Ende Septembers die Revolution in Portugal ausbrach; daß ich persönlich einem Geschäft entging, dessen Übernahme bei großer Verantwortlichkeit mich mit unübersehbarem Verdruß bedrohte.

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 16, Berlin 1960 ff, S. 291-313.
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