Erster Auftritt

[8] Erleuchteter Saal.

Im Grunde des Theaters an einem Tische eine Gesellschaft von zwölf bis funfzehn Personen beim Abendessen. An der rechten Seite sitzt der Domherr, neben ihm hinterwärts die Marquise, dann folgt eine bunte Reihe; der letzte Mann auf der linken Seite ist der Ritter. Das Dessert wird aufgetragen, und die Bedienten entfernen sich. Der Domherr steht auf und geht nachdenklich am Proscenio bin und wider. Die Gesellschaft scheint sich von ihm zu unterhalten. Endlich steht die Marquise auf und geht zu ihm. Die Ouvertüre, welche bis dahin fortgedauert, hört auf, und der Dialog beginnt.


MARQUISE. Ist es erlaubt, so zerstreut zu sein? gute Gesellschaft zu fliehen, seinen Freunden die Lust traulicher Stunden zu verderben? Glauben Sie, daß wir scherzen und genießen können, wenn unser Wirt den Tisch verläßt, den er so gefällig bereitet hat? Schon diesen ganzen Abend scheinen Sie nur dem Körper nach gegenwärtig. Noch hofften wir gegen das Ende der Tafel, jetzt, da sich die Bedienten entfernt haben, Sie heiter, offen zu sehen, und Sie stehen auf, Sie treten von uns weg und gehen hier am andern Ende des Saals gedankenvoll auf und nieder, als wenn nichts in der Nähe wäre, das Sie interessieren, das Sie beschäftigen könnte.

DOMHERR. Sie fragen, was mich zerstreut? Marquise, meine Lage ist Ihnen bekannt – wäre es ein Wunder, wenn ich von Sinnen käme? Ist es möglich, daß ein menschlicher Geist, ein menschliches Herz von mehr Seiten bestürmt werden kann als das meinige! Welche Natur muß ich haben, daß sie nicht unterliegt! Sie wissen, was mich aus der Fassung bringt, und fragen mich?[8]

MARQUISE. Aufrichtig, so ganz klar seh ich es nicht ein. Geht doch alles, wie Sie es nur wünschen können!

DOMHERR. Und diese Erwartung, diese Ungewißheit?

MARQUISE. Wird doch wenige Tage zu ertragen sein? – Hat nicht der Graf, unser großer Lehrer und Meister, versprochen, uns alle und Sie besonders weiter vorwärts in die Geheimnisse zu führen? Hat er nicht den Durst nach geheimer Wissenschaft, der uns alle quält, zu stillen, jeden nach seinem Maße zu befriedigen versprochen? Und können wir zweifeln, daß er sein Wort halten werde?

DOMHERR. Gut! er hat. – Verbot er aber nicht zugleich alle Zusammenkünfte, wie eben die ist, die wir jetzt hinter seinem Rücken wagen? Gebot er uns nicht Fasten, Eingezogenheit, Enthaltsamkeit, strenge Sammlung und stille Betrachtung der Lehren, die er uns schon überliefert hat? – Und ich bin leichtsinnig genug, heimlich in diesem Gartenhause eine fröhliche Gesellschaft zu versammeln, diese Nacht der Freude zu weihen, in der ich mich zu einer großen und heiligen Erscheinung vorbereiten soll! – Schon mein Gewissen ängstiget mich, wenn er es auch nicht erführe. Und wenn ich nun gar bedenke, daß seine Geister ihm gewiß alles verraten, daß er vielleicht auf dem Wege ist, uns zu überraschen! – Wer kann vor seinem Zorn bestehen? – Ich würde vor Scham zu Boden sinken – jeden Augenblick! – es scheint mir, ich höre ihn; ich höre reiten, fahren. Er eilt nach der Türe.

MARQUISE für sich. O Graf! du bist ein unnachahmlicher Schelm! Der meisterhafteste Betrüger! Immer hab ich dich im Auge, und täglich lern ich von dir! Wie er die Leidenschaft dieses jungen Mannes zu brauchen, sie zu vermehren weiß! Wie er sich seiner ganzen Seele bemächtigt hat und ihm unumschränkt gebietet! Wir wollen sehen, ob unsre Nachahmung glückt.


Der Domherr kommt zurück.
[9]

Bleiben Sie außer Sorgen. Der Graf weiß viel; all wissend ist er nicht, und dieses Fest soll er nicht erfahren. – Seit vierzehn Tagen habe ich Sie, habe ich unsre Freunde nicht gesehen, habe mich vierzehn Tage in einem elenden Landhause verborgen gehalten, manche langweilige Stunde ausdauern müssen, nur um in der Nähe unsrer angebeteten Prinzessin zu sein, manchmal ein Stündchen ihr heimlich aufzuwarten und von den Angelegenheiten eines geliebten Freundes zu sprechen. Heute kehre ich nach der Stadt zurück, und es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mir auf halbem Wege, hier in diesem angenehmen Landhause, ein Gastmahl bereiteten, mir entgegenkamen und meine besten Freunde zu meinem Empfange versammelten. Gewiß, Sie sind der guten Nachrichten wert, die ich Ihnen bringe. Sie sind ein warmer, ein angenehmer Freund. Sie sind glücklich, Sie werden glücklich sein; nur wünschte ich, daß Sie auch Ihres Glücks genössen.

DOMHERR. Es wird sich bald geben, bald!

MARQUISE. Kommen Sie, setzen Sie sich. Der Graf ist abwesend, seine vierzigtägigen Fasten in der Einsamkeit auszuhalten und sich zu dem großen Werke vorzubereiten. Er erfährt unsre Zusammenkunft nicht, sowenig er unser großes Geheimnis erfahren darf. Bedenklich. Könnte es vor der Zeit entdeckt werden, daß die Prinzessin verzeiht, daß sich der Fürst wahrscheinlich durch eine geliebte Tochter bald versöhnen läßt: wie leicht könnte das ganze schöne Gebäude durch die Bemühungen der Mißgunst zugrunde gehen! Ausdrücklich hat mir die Prinzessin, die Ihre Verbindung mit dem Grafen kennt, befohlen, diesem Manne, den sie fürchtet, unsre wichtige Angelegenheit zu verbergen.

DOMHERR. Ich hange ganz von ihrem Willen ab; auch dieses schwere Gebot will ich erfüllen, ob ich gleich überzeugt bin, daß ihre Furcht ungegründet ist. Dieser große Mann würde uns eher nützen als schaden. Vor ihm sind alle[10] Stände gleich. Zwei liebende Herzen zu verbinden ist sein angenehmstes Geschäft. »Meine Schüler«, pflegt er zu sagen, »sind Könige, wert, die Welt zu regieren, und eines jeden Glückes wert.« – Und wenn es ihm seine Geister anzeigen, wenn er sieht, daß in diesem Augenblick Mißtrauen gegen ihn unsre Herzen zusammenzieht, da er die Schätze seiner Weisheit vor uns eröffnet!

MARQUISE. Ich kann nur sagen, daß es die Prinzessin ausdrücklich verlangt.

DOMHERR. Es sei. Ich gehorche ihr, und wenn ich mich zugrunde richten sollte.

MARQUISE. Und wir bewahren unser Geheimnis leicht, da niemand auch nur von ferne vermuten kann, daß die Prinzessin Sie begünstigt.

DOMHERR. Gewiß, jedermann glaubt mich in Ungnade, auf ewig vom Hofe entfernt. Mitleidig, ja verachtend sind die Blicke der Menschen, die mir begegnen. Nur durch einen großen Aufwand, durch Ansehn meiner Freunde, durch Unterstützung mancher Unzufriedenen erhalte ich mich aufrecht. Gebe der Himmel, daß meine Hoffnungen nicht trügen, daß dein Versprechen in Erfüllung gehe!

MARQUISE. Mein Versprechen? – Sagen Sie nicht mehr so, bester Freund. Bisher war es mein Versprechen; aber seit diesem Abend, seitdem ich Ihnen einen Brief überbrachte, gab ich Ihnen nicht mit diesem Briefe die schönsten Versicherungen in die Hände?

DOMHERR. Ich habe es schon tausendmal geküßt, dieses Blatt. Er bringt ein Blatt aus der Tasche. Laß es mich noch tausendmal küssen! Von meinen Lippen soll es nicht kommen, bis diese heißen begierigen Lippen auf ihrer schönen Hand verweilen können: auf der Hand, die mich unaussprechlich entzückt, indem sie mir auf ewig mein Glück versichert.

MARQUISE. Und wenn dann der Schleier von diesem Geheimnis hinwegfällt und Sie mit dem völligen Glanze des vorigen Glückes, ja in einem weit schönern vor den Augen[11] der Menschen dastehn, neben einem Fürsten, der Sie wieder erkennt, neben einer Fürstin, die Sie nie verkannt hat: wie wird dieses neue, dieses leuchtende Glück die Augen des Neides blenden, und mit welcher Freude werde ich Sie an dem Platze sehen, den Sie so sehr verdienen! –

DOMHERR. Und mit welcher Dankbarkeit werde ich eine Freundin zu belohnen wissen, der ich alles schuldig bin!

MARQUISE. Reden Sie nicht davon. Wer kennt Sie und ist nicht gleich lebhaft für Sie hingerissen? Wer wünscht nicht, Ihnen, selbst mit Aufopferung, zu dienen?

DOMHERR. Horch! es kommt ein Wagen angefahren. Was ist das?

MARQUISE. Sein Sie unbesorgt; er fährt vorbei. Die Türen sind verschlossen, die Läden verwahrt; ich habe aufs genaueste die Fenster zudecken lassen, daß niemand den Schein eines Lichts bemerken kann. Niemand wird glauben, daß in diesem Hause Gesellschaft sei.

DOMHERR. Welch ein Lärm, welch ein Getümmel?

EIN BEDIENTER tritt ein. Es ist ein Wagen vorgefahren; man pocht an die Tür, als wenn man sie einschlagen wollte. Ich höre des Grafen Stimme; er droht und will eingelassen sein.

MARQUISE. Ist das Haus verriegelt? – Macht ihm nicht auf! Rührt euch nicht. Antwortet nicht. Wenn er ausgetobt hat, mag er abfahren.

DOMHERR. Sie bedenken nicht, mit wem wir zu tun haben. – Macht ihm auf! Wir widerstehn vergebens.

BEDIENTE die hereinstürzen. Der Graf! Der Graf!

MARQUISE. Wie ist er hereingekommen?

BEDIENTER. Die Türen taten sich von selbst auf, beide Flügel.

DOMHERR. Wo soll ich hin?

DIE FRAUEN. Wer wird uns retten!

RITTER. Nur getrost!

DIE FRAUEN. Er kommt! er kommt![12]


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 8-13.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Großkophta
Der Großkophta

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon