Vierter Auftritt

[30] Die Vorigen. Der Ritter.


MARQUISE. Es scheint, Sie haben sowenig geschlafen als ich.

RITTER. Gewiß, diesmal hat der Graf unsere Geduld sehr geprüft, besonders die meine. Er ließ uns eine völlige Stunde im Garten stehen, dann befahl er uns, in die Wagen zu sitzen und nach Hause zu fahren; er selbst brachte den Domherrn herein.

MARQUISE. So sind wir denn glücklich alle wieder in der Stadt zusammen.

RITTER. Ist dieses Frauenzimmer Ihre Nichte, die Sie uns ankündigten?

MARQUISE. Sie ist's.

RITTER. Ich bitte, mich ihr vorzustellen.

MARQUISE. Dies ist der Ritter Greville, mein werter Freund.

NICHTE. Ich freue mich, eine so angenehme Bekanntschaft zu machen!

RITTER nachdem er sie aufmerksam betrachtet. Ihre Tante hat nicht zuviel gesagt; gewiß, Sie werden die schönste Zierde unsers gemeinschaftlichen Kreises sein.

NICHTE. Ich merke wohl, daß man sich in der großen Welt gewöhnen muß, diese schmeichelhaften Ausdrücke zu hören. Ich fühle meine Unwürdigkeit und bin von Herzen beschämt; noch vor kurzer Zeit würden mich solche Komplimente sehr verlegen gemacht haben.

RITTER. Wie gut sie spricht!

MARQUISE setzt sich. Sagt ich Ihnen nicht voraus, daß sie Ihnen gefährlich werden könnte?

RITTER setzt sich zu ihr. Sie scherzen, Marquise!


[30] Marquis ersucht pantomimisch die Nichte, ihm an der Hutkokarde, an dem Stockbande etwas zurechtezumachen; sie tut es, indem sie sich an ein Tischchen der Marquise gegenübersetzt. Der Marquis bleibt bei ihr stehen.


MARQUISE. Wie haben Sie den Domherrn verlassen?

RITTER. Er schien verdrießlich und verlegen; ich verdenk es ihm nicht. Der Graf überraschte uns, und ich darf wohl sagen: er kam uns allen zur Unzeit.

MARQUISE. Und Sie wollten sich mit gewaffneter Hand den Geistern widersetzen?

RITTER. Ich versichere Sie, schon längst war mir die Arroganz des Grafen unerträglich; ich hätte ihm schon einigemal die Spitze geboten, wenn nicht sein Stand, sein Alter, seine Erfahrung, seine übrigen großen Eigenschaften mehr als seine Güte gegen mich mir wiederum die größte Ehrfurcht einflößten. Ich leugne es nicht, oft ist er mir verdächtig: bald erscheint er mir als ein Lügner, als ein Betrüger; und gleich bin ich wieder durch die Gewalt seiner Gegenwart an ihn gebunden und wie an Ketten gelegt.

MARQUISE. Wem geht es nicht so?

RITTER. Auch Ihnen?

MARQUISE. Auch mir.

RITTER. Und seine Wunder? Seine Geister?

MARQUISE. Wir haben so große, so sichere Proben von seiner übernatürlichen Kraft, daß ich gerne meinen Verstand gefangennehme, wenn bei seinem Betragen mein Herz widerstrebt.

RITTER. Ich bin in dem nämlichen Fall, wenn meine Zweifel gleich stärker sind. Nun aber muß sich's bald entscheiden, heute noch! denn ich weiß nicht, wie er ausweichen will. – Als er uns heute gegen Morgen aus dem Garten erlöste – denn ich muß gestehen, wir gehorchten ihm pünktlich, und keiner wagte nur einen Schritt –, trat er endlich zu uns und rief: »Seid mir gesegnet, die ihr die strafende Hand eines Vaters erkennt und gehorcht. Dafür soll euch der schönste Lohn zugesichert werden. Ich habe tief in[31] eure Herzen gesehn. Ich habe euch redlich gefunden. Dafür sollt ihr heute noch den Großkophta erkennen.«

MARQUISE. Heute noch?

RITTER. Er versprach's.

MARQUISE. Hat er sich erklärt, wie er ihn zeigen will? Wo?

RITTER. In dem Hause des Domherrn, in der ägyptischen Loge, wo er uns eingeweiht hat. Diesen Abend.

MARQUISE. Ich verstehe es nicht. Sollte der Großkophta schon angelangt sein?

RITTER. Es ist mir unbegreiflich!

MARQUISE. Sollte ihn der Domherr schon kennen und es bis hieher geleugnet haben?

RITTER. Ich weiß nicht, was ich denken soll; aber es werde nun, wie es wolle, ich bin entschlossen, den Betrüger zu entlarven, sobald ich ihn entdecke.

MARQUISE. Als Freundin kann ich Ihnen ein so heroisches Unternehmen nicht raten; glauben Sie, daß es so ein leichtes sei?

RITTER. Was hat er denn für Wunder vor unsern Augen getan? Und wenn er fortfährt, uns mit dem Großkophta aufzuziehen – wenn es am Ende auf eine Mummerei hinausläuft, daß er uns einen Landstreicher seinesgleichen als den Urmeister seiner Kunst aufdringen will: wie leicht werden dem Domherrn, wie leicht der ganzen Schule die Augen zu öffnen sein!

MARQUISE. Glauben Sie es nicht, Ritter! Die Menschen lieben die Dämmerung mehr als den hellen Tag, und eben in der Dämmerung erscheinen die Gespenster. Und dann denken Sie, welcher Gefahr Sie sich aussetzen, wenn Sie einen solchen Mann durch eine rasche, durch eine übereilte Tat beleidigen. Ich verehre ihn noch immer als ein übernatürliches Wesen. – Seine Großmut, seine Freigebigkeit und sein Wohlwollen gegen Sie! Hat er Sie nicht in das Haus des Domherrn gebracht? Begünstigt er Sie nicht auf alle Weise? Können Sie nicht hoffen, durch ihn Ihr Glück zu machen, wovon Sie als ein dritter Sohn[32] weit entfernt sind? – – Doch Sie sind zerstreut – Irre ich, Ritter? oder Ihre Augen sind mehr auf meine Nichte als Ihr Geist auf mein Gespräch gerichtet!

RITTER. Verzeihen Sie meine Neugierde. Ein neuer Gegenstand reizt immer.

MARQUISE. Besonders wenn er reizend ist.

MARQUIS der bisher mit der Nichte leise gesprochen. Sie sind zerstreut, und Ihre Blicke scheinen nach jener Seite gerichtet zu sein.

NICHTE. Ich sah meine Tante an. Sie hat sich nicht geändert, seitdem ich sie gesehen habe.

MARQUIS. Desto mehr verändert find ich Sie, seitdem der Ritter eingetreten ist.

NICHTE. Seit diesen wenigen Augenblicken?

MARQUIS. O ihr Weiber! ihr Weiber!

NICHTE. Beruhigen Sie sich, Marquis! Was fällt Ihnen ein?

MARQUISE. Wir machen doch diesen Morgen eine Tour, Nichtchen?

NICHTE. Wie es Ihnen gefällt.

RITTER. Darf ich mich zum Begleiter anbieten?

MARQUISE. Diesmal nicht, es würde Ihnen die Zeit lang werden. Wir fahren von Laden zu Laden. Wir haben viel einzukaufen: denn es muß dieser schönen Gestalt an keinem Putze fehlen. Diesen Abend finden wir uns in der ägyptischen Loge zusammen.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 30-33.
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