Kinderverstand

[46] In großen Städten lernen früh

Die jüngsten Knaben was;

Denn manche Bücher lesen sie

Und hören dies und das

Vom Lieben und vom Küssen,

Sie brauchten's nicht zu wissen.

Und mancher ist im zwölften Jahr

Fast klüger, als sein Vater war,

Da er die Mutter nahm.
[46]

Das Mädchen wünscht von Jugend auf

Sich hochgeehrt zu sehn,

Sie ziert sich klein und wächst herauf

In Pracht und Assembleen.

Der Stolz verjagt die Triebe

Der Wollust und der Liebe,

Sie sinnt nur drauf, wie sie sich ziert,

Ein Aug entzückt, ein Herze rührt,

Und denkt ans andre nicht.


Auf Dörfern sieht's ganz anders aus,

Da treibt die liebe Not

Die Jungen auf das Feld hinaus

Nach Arbeit und nach Brot.

Wer von der Arbeit müde,

Läßt gern den Mädchen Friede.

Und wer noch obendrein nichts weiß,

Der denkt an nichts, den macht nichts heiß;

So geht's den Bauern meist.


Die Bauernmädchen aber sind

In Ruhe mehr genährt,

Und darum wünschen sie geschwind,

Was jede Mutter wehrt.

Oft stoßen schöckernd Bräute

Den Bräut'gam in die Seite,

Denn von der Arbeit, die sie tun,

Sich zu erholen, auszuruhn,

Das können sie dabei.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 46-47.
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